Bild Aus der Jubiläumsschrift von 1974 (I)

Dr. Rolf Rochusch (?)

Ein geschichtlicher Rückblick

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Nachkriegszeit

In grauschattiger Einsamkeit, ein Flatschen Deckenputz poltert abwärts, bis eben gehalten an zerbrochenem Rohr. Durch die oberen Fensteröffnungen fängt sich der Blick erst in den Wolken. Nahebei durchwitterter Brandgeruch. Schwarzgekohlte, in Schutt verkeilte Balkenstümpfe. Noch niemand hat sich bisher dem dräuenden Gemäuer ausgesetzt, um Holz davon für seinen Ofen zu bergen. Am Tor war eine Papptafel verdrahtet; die Schrift darauf verwaschen: "bin … stimmte das noch? – Nr.23"; Ruine Nr. 23.
Nebenan ein hingemähter Straßenzug. Knochig steile Brandmauerschrägen wie ausgezahnte, schicksalsgebrochene Diener, die kraftlos die letzte Habe ihrer Herren schützen wollen.
Irgendwo das Knirschen und Scharren von Schaufeln, der stumpfe Klang von Spitzhacken: Ein Häufchen Trümmerfrauen. Kopftücher um das strähnige Haar, unter den Schürzen lang baumelnde Kleider, die zu dem mageren Leib nicht passen. Einige trugen die Stiefel ihrer Männer, ausgestopft mit Fußlappen, abgeledert von Mörtelfraß und rauhem Ziegelstoß. Sie schaufeln für ein bißchen Brot und Fett, Arbeiterkarte, ansonsten ein nichtsnutziger Irrsinn, ein ohnmächtiges Pickeln in bracher Weite.
Weiter hoch die Stadt. Zumeist glaslose Fenster, gedichtet mit Holz oder lichtdurchlässigem Kunststoffdraht, so gut es ging. Unter den Rauchkräuseln der Schornsteine wurden Brotscheiben geröstet oder mit einem Teelöffel Fett Kartoffeln gebraten. Eine Frau zog einen Handkarren die Straße entlang. Ihre beiden Kinder schoben ernst hintendran. Sie hatten vom Lande einen Sack voller Kartoffeln durch die Sperren gebracht. Der Sohn war gerade noch auf dem Dach des Waggons mitgekommen. Gleich hatten sie es nun geschafft. Erleichterung in ihren erschöpften Körpern.

Die Westalliierten hatten vor ein paar Wochen ihre Sektoren besetzt. Zum ersten Mal ein Aufatmen, ein keimendes Hoffen. Die Russen waren abgezogen. Ein Ende der Angst der Frauen, ein Ende der Furcht der Männer vor unberechenbaren Androhungen, ein Ende wilder Demontagen. Gut vier Monate nach dem Kampf in und um Berlin, der letzten Schlacht vor der bedingungslosen Kapitulation, sickerte noch aus allen Wunden Blut, das unersetzlich schien. Es war die Zeit, die keine Zukunft kannte. Auf Schritt und Tritt die tiefen Furchen der Vergangenheit, die in übermächtigem Zwang jedem Weg die Richtung gaben.
Vier Monate mit der Ungewißheit zu leben bedeutet aber auch die Erfahrung, mit ihr irgendwie fertiggeworden zu sein. Zaghaft, ganz zaghaft, ermuntert durch die westalliierte Hausherrenschaft, wurden zerrissene Fäden wieder aufgenommen. Sie wurden den politisch Unbelasteten zum Knoten in die Hand gegeben. Die stark dezimierte Männerschaft erhielt Zulauf durch die Heimkehrer.

In diese Wochen fallen vielleicht die ersten Gedanken, Gespräche ehemaliger Schachkameraden aus der Schachgruppe "Werner Siemens", in denen visionär Verknüpfungen erschienen. Man las und hörte davon, daß sich andernorts auch schon Schachvereinigungen bezirklich organisiert haben oder organisieren wollten. Die neue Sport-(Schach-)organisation in Berlin (Gesamtberlin) hatte jedoch den Geboten des Alliierten Kontrollrates zu folgen. Diese zielten mit Strenge auf die Zerschlagung von Traditionen, auf Neuordnung der Gesellschaft. Die Deutschen durften nie wieder zu militantem Gewicht und nationaler Bedeutung gelangen.
Der Sport wurde kommunal organisiert und bezirklich gegliedert. Die, die das in den Rathäusern überwachten, nannten sich Antifaschisten. Sie waren ehrlich bemüht, die Tragfähigkeit ihrer gesellschaftlichen Idee glaubwürdig zu machen. Man darf ihnen, die jahrelang gelitten hatten, nicht vorwerfen, daß ihr Wollen überlagert war von antifaschistischen Betonungen.
Gedanken, Begegnungen und Gespräche vervielfältigten sich allmählich zur Aktion. Es wird Spätherbst 1945 gewesen sein, als die Zahl der Gesammelten für die Bildung einer Schachgruppe Mut gab. Im Januar 1946 war jedenfalls schon eine ansprechende Führung mit organisatorischen Funktionen vorhanden. In den folgenden Monaten, nachdem nun auch ein Spiellokal gefunden worden war, formierte sich das Ganze zur kommunalen Schacheinheit "Siemensstadt".
Seit dem Winterhalbjahr 1946/47 gab es einen geregelten Spielbetrieb mit Beteiligung an den Berliner Mannschaftskämpfen. Etwa 15 Mitglieder werden damals diesen Anfang gemacht haben.

Nachkriegsanfänge bei Siemens

Die Furchen des Krieges hatten ihren Zwang ein wenig gelockert. Der Mensch hatte die Not häuslich gemacht. Sie forderte einerseits ihre Opfer, andererseits hatte sie Mittel und Wege entdecken lassen, ihr zu begegnen. Über ein Jahr nach dem Krieg hatten sich wieder Gewißheiten konturiert, Ordnungsgrößen strukturiert, auf die man setzen konnte. Bei aller tagesgebundenen Existenzverkettung war soviel Halt inzwischen aufgerüstet worden, um einer Planung Substanz zu geben. Und die Sorge um das Tägliche entließ Kräfte für andere Engagements. Schrittweise war die Aufräumung bei Siemens vorwärts gekommen. In einigen Abteilungen wurde schon wieder verstärkt und regelmäßig gearbeitet. Die ausgeräumten Fabrikhallen waren hier und da mit reparierten Maschinen bestückt worden, noch sehr karg zwar, aber ein paar Arbeitsplätze mehr.

Just bastelte man an dem, was der verlorene Krieg zurücklassen hieß: an der Einrichtung der Kameradschaft Siemens e.V.
Die ersten Hobbygruppen hatten sich bereits 1945 gebildet; sie wurden jedoch durch Hunger und Kälte des Winters 1945/46 entkräftet. Die späteren Aktionen 1946/47 hatten bessere Voraussetzungen und konnten sich nachhaltig am Leben halten. Diese Initiativen hatten, wie es nun nicht anders sein konnte, ihre Auseinandersetzungen mit den zeitgemäßen Hemmnissen wie Stromsperren, ungeheizte Räume, die Vorgängerschaft der Kameradschaft Siemens e.V. als Politikum, die frühere nationalsozialistische Anhängerschaft einzelner Beteiligter, fehlende Materialien und Einrichtungen, ein Paket von Schwierigkeiten, dessen Überwindung jedem Geduld, Einsatz und Opfer abverlangte.
Die Zeit des Aufbaus – wenn man will des Wiederaufbaus – insbesondere der Anfang, hatte ihre Meriten. Sie forderte Konzentration und Engagement. Und sie erhielt bereitwilligst, was sie forderte, weil die Demontage der Gleiskörper nur die Spur der Not gelassen hatte, aus der nun das Konzentrat von Kräften und Möglichkeiten einen Ausweg wies.

Die Schächer von Siemens beobachteten die Entwicklung der Hobbygruppen. Sie selbst hatten ja in der Schachgruppe "Siemensstadt" ihr schachliches Unterkommen gefunden. Aber sie entsannen sich sehr wohl der durch das Haus Siemens abgesicherten Obhut des "Werner Siemens" in gepflegten Clubräumen. Sie berieten mit, als es darum ging, ein Dach zu konstruieren, das die Hobbygruppen in ein festes Gefüge einpaßte und zum anerkannten Bestandteil des Hauses Siemens werden ließ. Schachfreund Johannes Janzen war ihr Wortführer. Für die Installierung eines solchen Daches war eine Kulturkommission eingesetzt worden, die in der Zusammensetzung mehrerer Betriebsratsmitglieder und den Abgeordneten der Hobbygruppen als Gäste beriet.
In mehreren solcher Arbeitssitzungen in schneller Folge wurde im September / Oktober 1947 die vorbereitende Phase mit der Ausarbeitung der Satzung und exakten Beschlußfassung für den weiteren Weg zum Abschluß gebracht. Der Name der Dachorganisation sollte "Kulturkreis Siemens" heißen, für den Fall von Einwendungen der britischen Militärregierung aber in "Kulturkreis Siemensstadt" abgeändert werden.

Die Arbeitsprotokolle vom September / Oktober 1947 erwecken in der Sache den Eindruck einer Einmütigkeit der Beteiligten. Entweder die hitzigen Punkte waren in den vorhergehenden Sitzungen ausgeräumt worden oder die Satzungen des Vorgängers, des "Kameradschaft Siemens e.V.", ließen sich leichter Hand der neuen Zeit anpassen. Wahrscheinlicher ist das letztere, denn noch stand die Schaffung von Substanz der Zeit näher als ihr Zerreden.

Nur einmal wollte Hagel in die Ernte schlagen: Der Betriebsrat rügte die federführende Mitwirkung des einstigen Geschäftsführers der früheren Kameradschaft Siemens und er beanstandete das Verlangen des Kulturkreises nach Firmenzuschüssen. Es ist herzerfrischend nachzulesen, mit welcher Geradheit diesen Einwendungen begegnet worden ist. Das der Kulturkommission vorsitzende Betriebsratsmitglied Kreitling verteidigte den Einsatz des "Kollegen Biermann" als den Einsatz des aus seiner Erfahrung geeigneten Mannes, "derartige Dinge aufzuziehen", der überdies mit der Einstufung als Mitläufer bereits entnazifiziert sei. Im Übrigen seien die anwesenden Kollegen darüber einig, "daß die Betriebsratsmitglieder nur wenig Kenntnis von den Erfordernissen einer derartigen Organisation wie der Kulturkreis Siemens haben." Zuschüsse wären immer nötig, "sie abzulehnen, heißt auf die Schaffung derartiger Organisationen verzichten."
Nun, zur Glättung der Wogen wurde Herr Biermann aus der Schußlinie genommen. Und der Gesamtbetriebsrat gab zu der von ihm in Auftrag gegebenen Satzung nach unbedeutenden Änderungen bereits im November 1947 seine Zustimmung.
Der Antrag auf Eintragung in das Vereinsregister wurde dann allerdings erst im März 1948 gestellt. Das Bezirksamt Spandau stellte diesem Antrag seine Bedenken entgegen und hielt eine Genehmigung nur für möglich, wenn der Name geändert und jeder Einwohner des britischen Sektors Mitglied werden könne.
Während der Laufzeit des Antrages entfalteten die inzwischen vermehrten Gruppen erhöhte Aktivität, die sogar rückwirkend vom 1. Oktober 1947 an mit monatlich 500,- RM bezuschußt wurde. Der Auftritt nach außen im eigenen Namen mußte dem Kulturkreis Siemens sachgemäß noch versagt bleiben. Zentrum der Gruppenarbeit war das 1948 teilweise umgebaute Kameradschaftsheim Siemens, das heutige Clubhaus. Die Schächer hatten darin an Donnerstagen ihre Treffen. Ihr Kreis rekrutierte sicherlich aus Schächern der Ortsgruppe "Siemensstadt" und Schächern aus dem Hause Siemens, die sich nicht im kommunalen Sport organisiert hatten. Im Juni 1948 wurde der Antrag auf Genehmigung des Kulturkreises Siemens an die Alliierte Kommandantur weitergegeben. Kurz darauf brach die Währungskrise aus. Die Reichsmark wurde aus dem Verkehr gezogen, die DM eingeführt. In Berlin hatte das seine hochbrisante Wirkung, weil die Einführung der DM nur in den drei Westsektoren erfolgen konnte. Eine Sturzflut von Ungewißheiten durchschüttelte den eingewohnten Alltag. Schüttelfröste überfielen den Rücken. Menschen haufenweise auf den Straßen, Fragen in den Augen, auf den Lippen keine Antworten. Die Alliierte Kommandantur stand in der Zerreißprobe, auch dort, man spürte es, keine Sicherheit, welchen Verlauf die Dinge nehmen würden. Im russischen Sektor erhielt die Reichsmark in aller Eile einen Koupon aufgeklebt. Im Kompromiß wurde in den drei Westsektoren die Mischwährung eingeführt. Die Reichsmarkmünzen blieben gültiges Zahlungsmittel.

Die erste durchgehende Spaltung Berlins war vollzogen, die wirtschaftliche Zugehörigkeit der drei Westsektoren zu den westlichen Besatzungszonen fundamentiert. Das längst fühlbare Auseinanderleben von Ost- und Westberlin hatte jäh durch diesen Anlaß eine vorweggenommene Konsequenz erfahren. Dem Antrag des Kulturkreises Siemens hatte diese Entwicklung wahrscheinlich zugearbeitet. Die verstärkte Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Militärregierungen für ihre Sektoren wird es der britischen Militärregierung erleichtert haben, dem Antrag um die Jahreswende 1948/49 stattzugeben.
Mit der Gründungsversammlung am 27. Januar 1949 wurde der faktisch bereits viele Monate tätige Kulturkreis nun auch formal sanktioniert.

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Schachgruppe im Kulturkreis Siemens e.V.

Der kommunale Sport hatte unter Sportlern und Funktionären allgemein nie die rechte Wärme finden können. Die gemeindliche Lenkung stand den sportgemeinschaftlichen Abläufen nicht nahe genug und zersplitterte sich auf alle Sportgemeinschaften und alle Sportbereiche. Mit der fehlenden Hautnähe konnte dem kommunalen Sport einfach nicht die notwendige Elastizität zuwachsen. Die örtlichen Abgrenzungen erwiesen sich als beziehungsarme Willkür, die zudem noch der Bildung von ersten Mannschaften und damit der Streuung des sportlichen Wettbewerbes entgegenstanden. Die dogmatische Bemächtigung des Sports konnte nur wenige Anhänger finden.

So hatte es der Schachkamerad Johannes Janzen mit seiner zusätzlichen Argumentation unter Hinweis auf die vom Hause Siemens gebotenen Vorteile leicht, die Mitglieder der Ortsgruppe "Siemensstadt" zum Übergang zu bewegen. Diese schlossen sich der Schachgruppe im Kulturkreis Siemens e.V. an, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal feststand, daß diese Schachgruppe dem ringsum bestehenden kommunalen Sport eingegliedert werden wird.

"Am 25. März 1949 wurde die Schachgruppe im Kulturkreis Siemens von 15 Schachinteressenten gegründet." (Auszug aus dem Jahresbericht 1949). Den provisorischen Vorsitz erhielt Johannes Janzen.

Die Gründung fiel in schwere Zeiten. Sie waren anders schwer als die frühe Nachkriegszeit, nicht so unmittelbar und total gewichtig. Man lebte zu dieser Zeit inmitten eines durch die Währungskrise unglaublich aufgeladenen, politischen Spannungsfeldes. Zwei Riesen frontierten sich mit zuckenden Fäusten in den Taschen. Berlin war für Monate das Zentrum der Welt, auf dessen Kleinraum zwei politische Welten kompromißlos ihre Macht erprobten, kalte Schläge austeilend. Die Einführung der Westmark als alleiniges Zahlungsmittel am 1.4.1949, Sperrung der Zufahrtswege zu Wasser und zu Lande für die Westberliner, die Errichtung der Luftbrücke, bis jetzt deutlich nachwirkende Ereignisse. Wehen der Neuzeit ohne Schreie, ohne Blut, vom verhaltenen Leiden der Angst erfüllt. Zu den Folgen dieser Auseinandersetzung gehörte der alsbaldige Wegfall (Herbst 1949) der kommunalen Lenkung und Gliederung des Sports. Die Sportvereine nahmen zumeist die alten Traditionen wieder auf.
Die Schachgruppe stand nun inter pares.

Die Schrumpfung der Siemens-Belegschaft öffnete im Gegensatz zu früheren Zeiten die Gruppen auch Außenstehenden. Eine Unterscheidung von Lohn- und Gehaltsempfängern fiel völlig weg. Ohne diese Voraussetzungen wäre eine wirksame Gruppentätigkeit vielfach gar nicht möglich gewesen.
Um zu werben gestattete die Schachgruppe auch Nichtmitgliedern die Teilnahme an den ersten Schachveranstaltungen wie einem Eröffnungsturnier (24 Teilnehmer), einem Sommerturnier (20 Teilnehmer), dem Winterturnier (26 Teilnehmer) und drei Blitzturnieren.
11 "Neue" entschlossen sich im ersten Jahr zur Mitgliedschaft, drei Abgänge brachten die Mitgliederzahl auf 23, Ende 1949.
Am Anfang der folgenden Ehrenliste steht der Name Dietrich Frische, der Gruppe erster Kassierer und noch heute Mitglied. Er war also auch der erste Clubmeister.

Die kommunale Schachsparte "Groß-Berlin" hatte im November 1949 ihre Funktionen in den Westsektoren dem neu gegründeten Berliner Schachverband übertragen müssen. Die Neugliederung des Westberliner Sports hatte eine dieser Gliederung angepaßte Dachorganisation notwendig werden lassen. Noch blieb der Gesamtberliner Sport erhalten. Beide Verbände des Schachs mußten also ihre Tätigkeit koordinieren.
An den Mannschaftskämpfen, die am 15. Januar 1950 begannnen, war die Schachgruppe mit einer Mannschaft beteiligt. Damals gehörten noch 10 Spieler zu einer Mannschaft. Diese Mannschaft wurde der Gruppe III zugeteilt, in der sie sich mit Reinickendorf-West II, Friedrichshagen I, Lichtenberg II, König Tegel I, Wittenau II, VAB Berlin und Falkensee I auseinandersetzen mußte.

Man hatte seine Mannschaft beisammen, man hatte seine Gruppe; alles klar? Nein! Wieder ein Politikum: Nicht jeder Mannschaftsspieler durfte in die Ostzone einreisen. Ein Auftritt mit ungeschwächter Mannschaft war ausgeschlossen. Vereinsleiter Janzen mußte Rat schaffen. Er lockte die Heimbevorteilten mit, wer weiß welchen Angeboten – vielleicht einem Essen oder einem großzügigen Auslagenersatz – nach Siemensstadt. Im Falle Friedrichshagen aber lief es schief. Die Friedrichshagener bissen nicht an, gaben einfach keinen Bescheid. War dem einen oder anderen der Weg zu weit? Das Angebot zu karg? Oder spekulierten sie mit einem billigen sportlichen Lohn? Oder war einer oder waren mehrere unter ihnen mit geschultem politischen Gewissen? Ungeklärt.
Der am 19. Februar angesetzt gewesene Kampf wurde wohl nicht ausgetragen. Der Federkrieg dazu blaute noch bis in den Mai hinein Papier, wohl ohne "daß dieser Fall eine friedliche Beilegung" erfahren hat. Westberlin war und bleibt das Feld politischer Unebenheiten mit manchem überraschenden Rumpler.

Wer sagt, die Siemensstädter wollten nur länger schlafen, ist ein Schalk. Sie wären gewiß ohne Wimpernzucken um 5.30 Uhr früh am Sonntag aufgestanden, hätten die schwach beheizte S-Bahn benutzt, um in Friedrichshagen um 9 Uhr an den Brettern zu sitzen, möglicherweise hier weiter fröstelnd, da das Spiellokal sein Kontingent an Heizmaterial so ziemlich aufgebraucht hatte. Solche Kleinigkeiten konnten damals nicht abschrecken. Einschränkungen aller Art waren auch ihnen geläufig (Lebensmittelkarten, Kohlenscheine, Stromsperren).

Bild Die erste mannschaftliche Beteiligung brachte jedenfalls mit 41 Brettpunkten den dritten Platz hinter Friedrichshagen (44) und König Tegel (54½). Im folgenden Winterhalbjahr 1950/51 reichte es nicht zu einer solch guten Plazierung. Die Auswärtskämpfe sind anscheinend ohne "Sonderbehandlung" abgewickelt worden. In der Mannschaftssaison 1951/52 wurde auch noch eine zweite Mannschaft aufgeboten. In der A-Klasse gab es mit 46½ Punkten wieder hinter Friedrichshagen einen vierten Platz (Gruppe 1). Die Zweite stieg als Spitzenreiter der B-Klasse, Gruppe 3, mit 66½ Punkten auf.

Diese Plazierung blieb jedoch nur von einem Teilwert. Eine mindere Plazierung hätte bei der neuen Klasseneinteilung auch ausgereicht. Die gesamtberliner Schachvergleiche hatten mit der abgelaufenen Saison ihre letzte Auflage erlebt, und wie wir heute wissen, für nun schon über zwei Jahrzehnte. In den drei westlichen Besatzungszonen hatten die Westalliierten weitgehende Vollmachten an die Deutschen abgegeben. Eine deutsche Regierung war auf das neu erarbeitete Grundgesetz vereidigt worden. Aus drei Besatzungszonen formierte sich die politische Einheit Bundesrepublik. Berlins Sonderstatus setzte der Ausstrahlung dieser Begebenheit hierher enge Grenzen. Die Währungseinheit dagegen schuf Verflechtungen erhaltender Tragweite. Das Haus Siemens vergrößerte die Zahl der Arbeitsplätze, die Kulturgruppen die Zahl ihrer Mitglieder aus den Reihen der Belegschaft.
Die Schachgruppe wuchs bis zum Ende 1951 auf 38 Mitglieder. Johannes Janzen führte sie weiterhin an. Der Spielbetrieb wurde bereichert mit Simultan- und Freundschaftskämpfen (am 23.4.51 gegen Reinickendorf 10½:7½; am 21.6.52 gegen Hertha Charlottenburg 12:2; am 18.8.51 gegen Spandau (Stadtklasse) 10:20), sowie mit Schachvorträgen. Der große Saal des Clubhauses wurde am 2. August 1951 dem Kulturkreis feierlich übergeben, nachdem er dafür hergerichtet war. Die Schachgruppe erhielt für einen Spielabend in der Woche diesen Saal, um den die Schachgruppe immer wieder von anderen Schachgemeinschaften beneidet wird. Der bisherige Spielraum wollte für den Spielbetrieb schon ein bißchen eng werden. In der Saison lag die regelmäßige Beteiligung der Mitglieder über 30 pro Spielabend. Nach den Einlassungen des Jahresberichtes 1951 legte die Schachgruppe nur Wert auf aktiv tätige Mitglieder.

Aber schon zur Jahresmitgliederversammlung vom 25.1.1952 wird vom Abgeordneten des Kulturkreises, Herrn Kreitling, bedauernd festgestellt, daß die Zahl der Anwesenden zu dieser Tagung geringer ist als zu den Spielabenden. Diese Versammlungen scheinen von je her sommerlicher Trägheit oder winterlicher Klarheit vergleichbar zu sein. Am gemütlichen Siemens-Ofen läßt sich das Pfeifchen gut rauchen. Der erzwungene Aufblick vom Schachbrett hat lästige Züge wie beim Zeitunglesen der Anruf der Frau. Und wenn man nun schon die hölzernen Klötzchen auf ihrem Platze lassen muß, so soll doch wenigstens die friedliche Stille eines Schachabends erhalten bleiben.

Hat nicht Herr Kubbe mit kritischem Unterton angefragt, ob Mitglieder der Gruppe auch anderen Schachvereinen angehören und womöglich dort in einer Mannschaft spielen? Hat nicht Herr Reiher jun. gebeten, "einmal zu überlegen, ob nicht doch ein Weg gefunden werden kann, Schachspielen mehr in der Theorie zu betreiben"? Und hat nicht Herr Frische mehr Werbetätigkeit gefordert, um insbesondere die zu geringe Zahl der Jugendlichen aufzubessern?
Zugegeben, lieber Freund, die Chronik hörte Stimmen, so wie sie sie immerfort hörte, zwanzig Jahre mit gleichen Anfragen, Anregungen und Feststellungen und immer die gleichen Antworten, als dürfe sich daran nichts ändern.

Zugegeben, es fällt schwer, von unserem wohligen Aufgehobensein in unserem Kreis ein Deut eingebüßt zu denken. Sollte eines das andere aber ausschließen müssen? Sollen rastrostige Nägel erst das Sitzen verleiden, ehe Bewegung wird? Der Tagesordnungspunkt 3 "Aussprache" ergab keine Diskussion zu den Berichten; flugs war man bei allgemeinen Dingen. Die Herren Kubbe, Reiher jun., Frische und auch Herr Schwarz hatten ihre Fragen gestellt und in Reihe Antworten und Stellungnahmen des Vorstandes erhalten. Der Schlußpunkt der Tagesordnung hatte seine Anziehungskraft verdeutlicht.
Die Erinnerung des Herrn Janzen mit der Feststellung, die Versammlung habe sich bisher beim Punkt "Verschiedenes" befunden und nicht, wie eigentlich vorgesehen, in der Aussprache zu dem Bericht des Vorstandes, bedeutete eine erheiternde Schmunzelpause. Die Entlastung war zwischen den Zeilen längst erteilt und die Wiederwahl des Vorstandes ein unnötiges Handhochheben.

Draußen vor der Tür wilderte der "Kalte Krieg". Die Russen brachten ihn, um von der durch die Luftbrücke ihnen abgezwungenen Anerkennung des Bestandes Westberlins und von der mit markanter Deutlichkeit vom politischen und wirtschaftlichen Aufleben der Bundesrepublik nachgewiesenen Schwerfälligkeit des eigenen Systems abzulenken. Das mitten in ihrem Einflußgebiet installierte "Schaufenster" des Westens zu verhängen, blieb auch in der fernsehlosen Zeit ein ohnmächtiges Strampeln. Groteske: die Supermacht der Sowjetunion wurde mit einer bohrenden "Winzigkeit" nicht fertig.

In Westberlin waren die Besiegten Beschützer der Besatzer geworden. Die eigene, nach außen gerichtete Politik der Beschützten konnte sich im wesentlichen darauf beschränken, diesen Schutz wachzuhalten. Eine Übergangszeit mit einer Vielfalt bizarrer Sonderbarkeiten, an denen jeder Miterlebende mit seinem Maß von "Situationskomik" Umgang hatte (so kauften z.B Westberliner "drüben" markenfreie Lebensmittel, den Wechselkurs hiesiger Wechselstuben und Schwarzhändler von 1:8 bis 1:4 Westmark zu Ostmark ausnutzend; Ostberliner arbeiteten in den Westsektoren für Westmark).

Neben arbeitsbeschaffenden Aufräumungs- und Abrißarbeiten (Notstandsarbeiten), neben den den Bedürfnissen der Zeit sich schnell anpassenden Provisorien wuchsen die Anteile auf Dauer fundamentierter Einrichtungen. Die Preise wurden von Rechts wegen stabil gehalten. Die Einkommen zwangen zur Sparsamkeit, doch der Mangel war bis auf die Wohnungsnot in aller Regel überwunden. Was von alledem in die Clubabende eindrang, war nur noch das, was der Mensch mitbrachte: Genügsamkeit, die Not von gestern vor Augen; Willigkeit, weil ihm Engagement Erfahrung war; Schlichtheit, da er sich seiner Dürftigkeit nicht schämte; geradlinige Geselligkeit, weil er sich frei und das Schicksal des anderen nicht weitab fühlte.

Es war kein Zufall, daß etwa in die Jahre 1953 – 1958 die lebhafteste Clubzeit fiel. Die Mitgliederzahl stieg auf über 50 und 60. Ein Großteil der Mitglieder füllte Abend für Abend in pulsierender Freude die Zusammenkünfte. Mit magischer Besessenheit zog es sie dorthin, durchwärmte den Raum mit strömendem Frohsinn. Es bedurfte keiner Attraktionen, keines erweiterten Programms. Was sich in dieser Hinsicht ergab, war nicht kalkuliertes Werben, sondern unmittelbar aus Zuneigung Geborenes.

Im Februar 1953 wurde das "Gesellige Beisammensein" aus der Taufe gehoben. Jahr für Jahr unvergeßliche Stunden. Keine Stars, keine Aufmachung, keine Besäufnisse. Eine zwanglose Selbstentäußerung, geradeaus ausgelebt aus einer Fülle, die sich aus dem Erleben des anderen, des Ringsum pausenlos auffüllte. Undenkbar, daß auch nur einer abseits stand. Reizende Spiele, deren Vorbereitung oft nicht eine einzige Mark kostete, wie Pappdeckellauf, Sauerkohlstäbeln, Kartoffelschälen, Stuhl- und Luftballontanz, Autorennen mit Räufelfäden, Ratespiele und vieles andere mehr. Musikkapelle aus den Reihen des Kulturkreises. Frauen und Mädchen der Musiker zugegen. Ein Auffordern ringsum, Stegreifpolonaisen. Ein Flug der Stunden, von denen nicht eine Sekunde reute. Es war kein Zufall, daß in diesen Jahren eine Zeitlang ein schneidiges Vorstandsgespann regierte: "die Reihers", wie man im Kreise populär Vater Walter Reiher und seinen Sohn Dieter benannte, das zudem noch den emsigen Fleiß des Otto Mohr zur Seite hatte. Ihr schwungvoller Einsatz ließ die Schachgruppe zu einem durchgängig gebildeten Organismus werden, an deren Spitze ein zu jeder Zeit ansprechbarer Adressat stand.
Die Älteren nennen die Spanne als schlichtes Kompliment die "Reiherzeit".

Der Artikel endet mit einem Gedicht von Otto Mohr auf unsere Vereinsmeister, welches wir im Artikel über die Vereinsmeisterschaft 1954 zitieren, sowie mit einer Liste der Vereinsmeister und Turniersieger seit 1950.
Die ebenfalls in Aussicht gestellte Fortschreibung des Rückblicks scheint indessen nicht mehr erschienen zu sein.


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Vereinschronik –– Übersicht zur Jubiläumsausgabe 1974