Trainingsmaterial Nr. 35

Inhaltsverzeichnis

Die Turm-Springer-Zange
Patt im Endspiel – Folge 2
Hausaufgabe
Eröffnung intensiv – Folge 9
Endspiel intensiv – Folge 8
Schönheit im Schach




  Die Turm-Springer-Zange

Bild Hier und in der nächsten Folge wollen wir uns zwei typische Mattbilder ansehen, die in der praktischen Partie immer wieder vorkommen – aber wohl noch öfter von den beteiligten Spielern übersehen werden. Das ist natürlich besonders ärgerlich, wenn dadurch ein sicherer Sieg vergeben wird. Leider ist auch mir das schon passiert …
Das Bild zeigt den wesentlichen Gehalt eines Mattbildes, das ich als "Turm-Springer-Zange" bezeichnen möchte.
Mit minimalem Figureneinsatz gelingt es, den König in seiner scheinbar sicheren Rochadestellung mattzusetzen.

Die Zange kann auf ganz verschiedene Weise zuschnappen. Es gibt keinen Standardweg zu diesem Mattbild. Sehen wir uns deshalb einige Beispiele an, um ein Gespür dafür zu bekommen.

In der ersten Partie krönt der tschechische Großmeister Blatny einen starken Angriff mit der Zange.
Furdzik – Blatny, New York 2003

Sehr eindrucksvoll ist das Zangenmatt, wenn ihm spektakuläre Opfer – sogar Damenopfer – vorausgehen.
Paci – NN, Italien 1989
Izoria – Kalagashvili, Georgien 2001

Putzig ist das folgende Beispiel: Der erste Turm setzt die Zange probeweise an und opfert sich – dann beißt der zweite Turm zu.
Manik – Kalousek, Slowakei 1995

Aber auch in scheinbar ruhigen Stellungen – wenn alles überstanden scheint – lauert unser Mattmotiv. Eine Unachtsamkeit genügt, und schon ist die bis eben ausgeglichene Stellung rettungslos verloren.
Silva – Mendes, Portugal 1985
Sunderbrink – Gerhardt, Deutschland 1998

Zum Schluss eine eigene – unangenehme – Erfahrung. In einer Partie gegen einen Berliner Jugendmeister verpasste ich die Gelegenheit, im richtigen Moment auf die Turm-Springer-Zange zu spielen. Entschuldigend kann nur gesagt werden, dass ich davor bereits schlechter stand und die Partie mental schon aufgegeben hatte – Schade!!
Grünwald – Binder, Berlin 2004




  Patt im Endspiel

Bereits in einer früheren Trainingseinheit (Nr. 5) hatten wir Endspielstellungen betrachtet, in denen sich die scheinbar aussichtslos unterlegene Seite noch durch ein Patt retten konnte.
Wir wollen dies heute fortsetzen. Dabei wird es vielleicht überraschen, dass auch in Bauernendspielen durchaus Pattwendungen vorkommen. Ein Beispiel dazu gab es auch schon in Trainingseinheit Nr. 6 zu sehen.

In der ersten Partie scheitert ein scheinbar offensichtlicher Gewinnplan an einer Pattwendung.
Kasimow – Komay, Israel 1979
Ähnlich einfach ist auch die folgende Stellung. Man muss nur im entscheidenden Moment an das Patt denken.
Lehrstellung

Selbst auf höchster Wettkampfebene kommen Bauernendspiele mit Pattmotiven vor.
Die Stellung von Großmeister Jonathan Mestel gegen seinen polnischen Rivalen scheint auf den ersten Blick gewonnen zu sein, da er einen entfernten Freibauern besitzt und auch bald einen gegnerischen Bauern erobert – doch sehen wir genauer hin:
Mestel – Sznapik, Schacholympiade 1978
Das Beispiel zeigt nachdrücklich, welch gute Remischancen für die unterlegene Seite entstehen, wenn sich noch Randbauern auf dem Brett befinden. Wenn es dem Verteidiger gelingt, dafür zu sorgen, dass am Ende ein Randbauer verbleibt, hat er den halben Punkt meist sicher.

Auch im Kampf um die Weltmeisterschaft sind solche Wendungen bereits übersehen worden. Der frühere WM-Kandidat Bent Larsen aus Dänemark büßte einen halben Punkt ein, als er den amerikanischen Großmeister Tarjan beim Interzonenturnier (WM-Qualifikation) 1979 in eine Pattstellung entschlüpfen ließ.
Tarjan – Larsen, Riga 1979

Die hier vorgestellten Beispiele entnahm ich einem hervorragenden Buch des Amerikaners Edmar Mednis. Er dekoriert seine Sammlung mit einer eigenen Turnierpartie, bei der er nur glücklich einer Pattrettung entkam.
Aronson – Mednis, USA 1953


Schließlich – wenn auch nur vordergründig mit diesen Partien verwandt – ein lustiger Pattschluss aus einem aktuellen Turnier. Der mehrfache Berliner Champion Jakov Meister versuchte über viele Züge hinweg mit König, Dame und Springer gegen König und Dame seines jungen Gegners zu gewinnen. Doch der frühere Deutsche Jugendmeister Attila Figura verteidigte sich umsichtig und beendete die Partie mit einem witzigen Patt.
Meister – Figura, Berlin 2005




  Hausaufgabe

Zunächst die Auflösung der Hausaufgaben aus Folge 33:

In allen Partien gelang es, mit schwerem Geschütz die gegnerische Stellung zum Einsturz zu bringen. Dabei nutzten die Sieger die Grundreihenschwäche bzw. die mangelnde Koordination der Schwerfiguren aus.
Vor allem die beiden ersten Partien sorgten für einen riesigen Zuschauerauflauf:
Böttcher – Alic, Berlin 2004
Stielau – Schirrmacher, Berlin 2005
Wolff – Binder, Berlin 2005


Außerdem war nach dem mathematischen Beweis gefragt, dass Weiß im Doppelzugschach bei richtiger Spielweise mindestens ein Remis erreicht.
Wir führen den Beweis indirekt, das heißt wir nehmen an, dass Weiß trotz ausgezeichneten Spiels stets verliert. Wenn diese Annahme zu einem Widerspruch führt, ist die ursprüngliche Behauptung bewiesen.
Wir spielen mit einem Partner gleichzeitig 2 Partien an 2 Brettern – jeweils mit Weiß. Am 1. Brett eröffnen wir mit Sb1-c3-b1, also wir verändern die Stellung überhaupt nicht. Jetzt entsteht an diesem Brett eine Situation, in der sozusagen Schwarz die Partie eröffnet – nehmen wir an, er spielt e7-e5 und d7-d5. Diese Züge kopieren wir (mit Weiß) am 2. Brett: also e2-e4 und d2-d4.
Dann wiederholen wir den Zug des Gegners vom zweiten Brett (den er dort mit Schwarz gemacht hat) auf dem ersten Brett (mit Weiß). Den Antwortzug von Schwarz an Brett 1 setzen wir an Brett 2 als weißen Zug ein usw.
Laut unserer Annahme ("Schwarz gewinnt immer.") müsste Schwarz also später beide Partien gewinnen. Auf dem 1. Brett setzt also Schwarz irgendwann den weißen König matt. Da wir diesen Zug auf dem 2. Brett mit Weiß wiederholen können, setzen wir dort den schwarzen König matt. Damit haben wir den gesuchten Widerspruch.
Folglich ist die Annahme falsch, das Schwarz auch bei bestem Spiel von Weiß gewinnen könne. Weiß erreicht mindestens Remis.
Leider hilft uns dieser Beweis aber überhaupt nicht dabei weiter, die beste Spielweise für Weiß auch zu finden…

Quelle: Jewgeni Gik – "Schach + Mathematik", Moskau 1983


Und hier nun die Aufgaben für dieses Mal.

Bei der Durchsicht einiger älterer Turniere bin ich auf zwei meiner Partien von 1989 gestoßen, die nach aufregendem Kampf jeweils remis endeten. Ich spielte beide Partien bei einem Berliner Turnier gegen starke Gegner aus sächsischen Vereinen.

In der Partie gegen Clemens Fischer hatte ich bereits vor der Schlussphase einige Gewinnchancen vergeben. Nachdem ich auch die letzte große Chance ausließ, ergab sich ein friedliches Remis.
C. Fischer – Binder, Berlin 1989
Im 31. Zug lässt Schwarz eine recht einfache Gewinnmöglichkeit aus – welche?
Genau dieser Gefahr hätte allerdings Weiß durch einen besseren 30. Zug vorbeugen können – wie?

Die Partie gegen Lars Schmidt endete mit Remis durch Dauerschach. Die Beobachter warfen ihm allerdings vor, dass er kurz vor Schluss einfach gewinnen konnte. Hatten sie damit Recht?
L. Schmidt – Binder, Berlin 1989
Welche der folgenden Aussagen trifft auf dieses Finale zu?

  1. Weiß stellt mit 41. Df7 eine unparierbare Mattdrohung auf und gewinnt.
  2. Nach 41. Df7 endet die Partie immer noch Remis. Schwarz hat zwar einige Drohungen, aber Weiß hat immer Dauerschach.
  3. Der Zug 41. Df7 wäre ein Fehler, nach dem Schwarz noch gewinnt.



  Eröffnung intensiv
Eine Variante aus dem Dreibauernsystem der Pirc-Verteidigung

Unsere heutige Lektion beschäftigt sich mit einer beliebten Spielweise innerhalb der Pirc-Verteidigung.
Doch schon mit dem Namen der Eröffnung beginnt die Verwirrung: Die Eröffnung mit den Zügen
1.e2-e4 d7-d6 2.d2-d4 Sg8-f6 3.Sb1-c3 g7-g6
wird im englischen Sprachraum oft als "modern defense" – also "Moderne Verteidigung" – bezeichnet. Da darf man sich natürlich fragen, ob dieser Name nicht irgendwann seine Berechtigung verloren hat, denn neu ist diese Spielweise schon lange nicht mehr. Daher benennt man sie auch nach zwei ihrer frühen Protagonisten, einem slowenischen und einem russischen Meister als Pirc-Verteidigung bzw. Pirc-Ufimzew-Verteidigung. Der Name von Vasja Pirc (1907 – 1980), der über 30 Jahre lang zu den besten Spielern Jugoslawiens gehörte, wird übrigens als "Pirts" ausgesprochen.
Das Trainingsmaterial befindet sich in einem eigenen Dokument:
Material zu einer Variante des Dreibauernsystems




  Endspiel intensiv
Heute: Randbauer und "falscher" Läufer

Wir haben bereits in Trainingseinheit 14 ganz kurz besprochen, dass das Endspiel mit einem Randbauern und dem "falschen" Läufer nicht zu gewinnen ist, wenn der auf sich allein gestellte König in die Verwandlungsecke gelangt. Als "falsch" bezeichnet man in diesem Zusammenhang einen Läufer, der eben genau dieses Eckfeld nicht beherrscht.
Dort hatten wir uns mit dem Nachweis der Remisfolge begnügt. Nun wollen wir sehen, wie man langfristig seine Chance suchen kann, in scheinbar nachteiliger Stellung auf diese Konstellation hinzuarbeiten.
Das Trainingsmaterial befindet sich in einem eigenen Dokument. Die Partieauswahl basiert auf einem Lehrbuch von GM Edmar Mednis.
Randbauer und "falscher" Läufer




  Schönheit im Schach

Was bedeutet es eigentlich, wenn man sagt eine Partie oder eine Kombination sei "besonders schön" gewesen?
Jeder von uns hat schon davon gesprochen und meist war man sich in diesem Urteil sogar einig. Eine rationale Erklärung dafür ist aber – wie so oft bei ästhetischen Begriffen – schwer.
Schachautoren haben sich dazu ihre eigenen Gedanken gemacht und die Kriterien der Schönheit im Schach in Worte gefasst.

Zunächst sehen wir die 7 Prinzipien der Schönheit, des französischen Autors Francois Le Lionnais, die dieser bereits 1939 erstmals formulierte:

  1. Korrektheit – Eine Kombination kann nur dann als schön gelten, wenn sie nicht widerlegbar ist. Leider haben sich gerade im Zeitalter des Computerschachs viele berühmte Kombinationen als unkorrekt herausgestellt.
  2. Zielstrebigkeit – Le Lionnais spricht hier von "Korrektheit zweiten Grades". Eine Kombination verliert ihren Wert, wenn es einen schnelleren Weg gibt, das angestrebte Ziel (Sieg oder Remis) zu erreichen.
  3. Originalität – Historischen Wert haben nur Kombinationen, die nicht bereits vollständig vorweggenommen sind. Auch heute freuen wir uns über ein ersticktes Matt auf f2. Doch viel größer war natürlich die Leistung derer, die dieses Motiv zuerst erkannten.
  4. Schwierigkeit – Natürlich sind nur Kombinationen wirklich wertvoll, die nicht trivial zu erkennen und zu berechnen sind. Der Wert steigert sich aber auch in dem Maße wie sich die Gegner gegenseitig Schwierigkeiten bereiten und immer die besten Antworten finden.
  5. Lebhaftigkeit – Der etwas unglückliche Begriff meint die Forderung, dass eine Partie möglichst viele spekulative Manöver enthält – also solche, deren Folgen nicht umfassend abzusehen waren.
  6. Reichtum – Eine Partie gilt als umso schöner, wenn sie eine Vielzahl unterschiedlicher Motive und Kombinationen enthält. Diese können zeitlich aufeinander folgen oder als Varianten nebeneinander stehen. Im zweiten Fall enthüllt sich der Reichtum erst beim intensiven Analysieren der Partie.
  7. Logische Einheit – Hier fordert der Autor, dass alle Kombinationen und Manöver einem einheitlichen Ziel (sei es ein Mattangriff, ein Damenfang, eine Bauernumwandlung oder was auch immer) untergeordnet sind. Jeder Zug muss im Hinblick auf dieses Ziel einen konkreten Zweck verfolgen.

Anders sind die englischen Autoren David Friedgood und Jonathan Levitt in "Secrets of spectacular chess" (1995) an die Kriterien wirklicher Schönheit herangegangen. Sie definieren 4 Merkmale schönen Schachs:

  1. Paradox – Wohl jede ernsthaft im Gedächtnis bleibende Schachpartie enthält unerwartete Züge, die den bekannten Prinzipien scheinbar widersprechen. Wichtigstes "paradoxes Element" sind natürlich alle Opfer, schließlich ist es keineswegs selbstverständlich, dass die Hingabe von Material zum Gewinn führt. Als paradox gelten aber auch Züge, die auf den ersten Blick keinen Sinn haben oder dem eigentlichen Ziel sogar zu widersprechen scheinen, z. B. weil eine Figur vom eigentlichen Brennpunkt weg gezogen wird. Zu den paradoxen Elementen gehören auch solche Motive wie der Zugzwang und bestimmte Remiskombinationen (Patt, Festungsbau).
  2. Tiefe – Was die Engländer als "Tiefe" bezeichnen, lässt sich am ehesten mit den Begriffen von Reichtum und Lebhaftigkeit aus der Arbeit von Le Lionnais vergleichen. Es geht darum, möglichst weite Kombinationen zu berechnen und auf alle Abwehrvarianten gefasst zu sein. Analog zu den beiden Formen des Reichtums bei Le Lionnais sprechen Friedgood und Levitt im Zusammenhang mit der Tiefe von "Länge" und "Breite".
  3. Geometrie – Viele grundlegende Motive beziehen ihren Reiz aus der geometrischen Wirkung der Züge, denken wir nur an Gabeln, Fesselungen oder Verstellungen. Auch Manöver, in deren Verlauf eine Figur einen ganz bestimmten Weg nimmt, sind geometrisch interessant. Schließlich ergeben sich immer wieder kurios anmutende Figurenkonstellationen, die zu einer bildhaften Interpretation einladen.
  4. Spielfluss – Wir erkennen das Element wieder, welches Le Lionnais als "logische Einheit" bezeichnet. Es geht auch hier darum, dass sich alle Züge in den Gewinnplan einfügen und Stück für Stück das Ziel erreicht wird. Die Engländer unterscheiden dabei noch zwischen gleichmäßigem Fluss und turbulentem Fluss. Im ersten Fall wird ein Gewinnmanöver unbarmherzig vorgeführt, ohne dass sich der Gegner wesentlich wehren kann. Dennoch muss bei jedem Schritt genau der richtige (schwierige) Zug gefunden werden, um nicht vom Wege abzukommen. Bei turbulentem Fluss haben wir mehr das Bild eines lebhaften Schlagabtauschs vor uns. Doch trotz aller Gegenwehr wird das angestrebte Ziel schließlich erreicht.



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Thomas Binder, 2005