Trainingsmaterial Nr. 36

Inhaltsverzeichnis

Die Turm-Läufer-Peitsche
Einführung in die Schachstrategie – Folge 12
Hausaufgabe
Schach-Spielarten – Folge 8
Regel-Fragen – Folge 5
Final Fun




  Die Turm-Läufer-Peitsche

Bild Hier sehen wir nun ein weiteres typisches Mattbild, das in der praktischen Partie immer wieder vorkommt – aber wohl noch öfter von den beteiligten Spielern übersehen werden. Das ist natürlich besonders ärgerlich, wenn dadurch ein sicherer Sieg vergeben wird. Leider ist auch mir das schon passiert …
Das Bild zeigt den wesentlichen Gehalt eines Mattbildes, das ich als "Turm-Läufer-Peitsche" bezeichnen möchte. Hin und wieder wird dieses Muster auch mit dem Namen des früheren Weltmeisters Adolf Anderssen in Verbindung gebracht. Auffällig ist auch die Verwandtschaft zu einem Mattbild, das wir aus der 4. Trainingseinheit kennen. Doch während jenes eine typische Eröffnungsfalle darstellt, kommt unser heutiges Motiv im späten Mittelspiel und im Endspiel vor. Dabei gelingt es mit minimalem Figureneinsatz, den König in seiner scheinbar sicheren Stellung mattzusetzen.

Wir wollen an einigen Beispielen ein Gespür für dieses Mattbild bekommen. Oft sind es scheinbar völlig gefahrlose Stellungen und ruhige Partien, in denen die Peitsche zuschlägt.
Marlier – Geuquet, 2004
Concha – Cabezas, Chile 2004

Das Grundmotiv haben wir nun gesehen:
Oft bilden die eigenen Bauern das Gefängnis für ihren König. Wenn dann noch die Kontrolle über die Grundreihe hergegeben wird, ist es passiert …
Skrzynski – Kopacz, Polen 2000

Seltener, aber besonders eindrucksvoll ist die Peitsche, wenn sie mit einem krachenden Opfer eingeleitet wird. Auch solche Wendungen sollte man gesehen haben, um sie im richtigen Moment zu erkennen.
Meier – Kurmann, Zürich 2001
Waagener – Mohrenstecher, Deutschland 1976
Lerner – Martens, Groningen 1992
Piroth – Leygue, Frankreich 2003
Und schließlich als Kracher zum Abschluss eine Partie aus der Polnischen Meisterschaft 1926:
Belsitzman – Rubinstein, Warschau 1926

Zum Schluss eine eigene – unangenehme – Erfahrung. In einer Turnierpartie verpasste ich die Gelegenheit, im richtigen Moment die Turm-Läufer-Peitsche zu schwingen. Entschuldigend kann nur gesagt werden, dass ich davor bereits schlechter stand und die Partie mental schon aufgegeben hatte – Schade!!
Kleine – Binder, Berlin 2005




  Einführung in die Schachstrategie
Heute: Das Spiel gegen den Minoritätsangriff

In Trainingseinheit 33 haben wir den Minoritätsangriff am Damenflügel besprochen. Dort sahen wir durchweg Angriffe, die erfolgreich vorgetragen wurden. Doch der Sturm mit einer Bauernminderheit ist keine Allzweckwaffe. Sehen wir deshalb heute, wie sich Schwarz gegen dieses typische Verfahren verteidigt.

Schwarz kann für seine Verteidigung verschiedene Ansätze wählen:

Einige Meisterpartien sollen nun einen Eindruck vom erfolgreichen Gegenspiel vermitteln.

Im ersten Beispiel zerlegt der ungarische Großmeister Csom drastisch die Stellung seines Gegners aus Malta:
Attard – Csom, Nizza 1974

Im gleichen Turnier – der Schacholympiade 1974 – konnte der Holländer Timman gegen den Amerikaner Byrne einen schulmäßigen Minoritätsangriff spielen. Doch Byrnes starkes Figurenspiel legte die Probleme der weißen Stellung schonungslos offen.
Timman – Byrne, Nizza 1974

In der nächsten Partie sichert sich der Verteidiger rechtzeitig Gegenspiel am Damenflügel und kann damit die Wirkung des Minoritätsangriffs neutralisieren.
Bobozow – Kostro, Bulgarien 1969

Nun sehen wir sogar 2 Weltmeister im Kampf. Zu jener Zeit (1924) hatte allerdings Lasker seinen Titel gerade verloren, während Aljechins Regentschaft noch folgen sollte. Die Partie zeigt, wie Aljechin an der diesmal verfehlten Idee eines Minderheitsangriffs festhält. Lasker hat aber die Stellung besser verstanden und startet einen erfolgreichen Gegenangriff.
Aljechin – Lasker, New York 1924




  Hausaufgabe

Zunächst die Auflösung der Hausaufgabe aus Folge 34:

Wir untersuchten eine Partie aus dem Berliner Schulschach. Schwarz konnte sie mit einem mutigen Opfer für sich entscheiden.
Der gegnerische König wurde ins Freie gezerrt und dort – nach einem zweiten Springeropfer – mitten auf dem Brett matt gesetzt.
Die Analyse zeigt, dass zunächst eine durchaus plausible Eröffnung gespielt wurde.
Dann leistet sich Weiß eine einzige Ungenauigkeit: Er stellt seinen Damenläufer auf ein ungedecktes Feld, statt die Entwicklung am Königsflügel folgerichtig zu beenden. Dies nutzt Schwarz zu einem Tempogewinn und nach dem etwas unglücklichen Rückzug des Läufers wird bereits das gewinnbringende Opfer möglich.
Es erweist sich als völlig korrekt. Weiß hätte das Opfer allenfalls ablehnen können, wäre dann aber auch in eine sehr schwierige Stellung geraten. In der Partie führt Schwarz den Angriff zielstrebig fort und gewinnt in wenigen Zügen, ohne dass sich Weiß wesentlich besser verteidigen konnte.
Einzelheiten sind in der Partie analysiert.
NN – Steinberg, Berlin 2004


Heute geht es um verpasste Chancen aus einem stark besetzten Turnier in Berlin. Beide Aufgaben sollten mit ein wenig Konzentration "vom Blatt" – also ohne Brett und Figuren und erst recht ohne Computer - lösbar sein.

Aufgabe 1
Aufgabe 2




  Schach-Spielarten

Heute: Schach aus vertauschter Grundstellung

Bild Die weißen Bauern stehen auf der 7. Reihe, die weißen Figuren auf Reihe 8. Auf der 1. Reihe stehen die schwarzen Figuren und auf der 2. Reihe die schwarzen Bauern. Nein – es ist nicht falsch aufgebaut, alles hat seine Richtigkeit.
Die Bauern ziehen in die gleiche Richtung wie im normalen Spiel – sie stehen also alle kurz vor der Umwandlung.
Diese seltsame Spielvariante wird auch online auf dem Server von Chessbase gespielt.

Wesen des Spiels Eigentlich ist es eine ganz normale Schachpartie – allerdings mit ganz vielen Bauernumwandlungen…
Regel-Besonderheiten In der Ausgangsstellung gibt es nur 4 mögliche Züge, nämlich mit den Springern.
Die Rochade ist beim Schach aus vertauschter Grundstellung nicht zulässig.
Taktische Kniffe Die Vielfalt der Damen lässt heftiges Kampfgetümmel erwarten. In aller Regel wird sich schnell ein Mattangriff ergeben. Materielle Opfer sind immer möglich, man kann sich ja fast nach Belieben neue Damen holen.
Eine Besonderheit ist das erstickte Matt im dritten Zug. Nur eine genaue Eröffnungsbehandlung beugt diesem vor:
Ersticktes Matt
Internet-Link Ich habe nur eine dürftige Beschreibung bei Chessbase gefunden, von der auch die Beispiele dieses Abschnitts stammen: Beschreibung bei Chessbase. Der Chessbase-Server ist in diesen Dingen eine sehr unzuverlässige Quelle. Der angegebene Link ist nicht immer erreichbar.

Eine mehr oder weniger typische Partie soll zeigen, wie Partien in dieser Spielvariante üblicherweise ablaufen (Partie von der Chessbase-Seite, Kommentare von mir):
Beispielpartie




  Regelfragen: Die Regel 9.6

Die Regel 9.6 des Weltschachbundes FIDE dient uns als Einstieg in die Behandlung der wesentlich komplexeren Regel 10.2 in der kommenden Folge. Regel 9.6 beschreibt eine gar nicht so seltene Form des Remis-Ausgangs einer Partie. Sehen wir zunächst den Wortlaut:
"Die Partie ist remis, sobald eine Stellung entstanden ist, aus welcher ein Matt durch keine erdenkliche Folge von regelgemäßen Zügen, selbst bei ungeschicktestem Spiel, erreichbar ist. Damit ist die Partie sofort beendet…
Eigentlich sagt diese Regel etwas ganz Selbstverständliches. Wenn eine "tote" Remisstellung" auf dem Brett ist, so wird dies auch als Remis gewertet. Damit ist die Partie (ähnlich wie bei Matt oder Patt) sofort beendet. Man muss hier also kein Remis beantragen, sondern hat es automatisch erreicht. Der Gegner hat auch keine Chance, mit noch so erheblichem Zeitvorsprung auf Gewinn durch Zeitüberschreitung zu spielen.

Das Problem liegt nun (vor allem für schwächere Spieler) darin, eine solche Stellung zu erkennen und richtig zu bewerten. Es darf eben selbst bei schlechtestem Spiel kein Matt mehr möglich sein.
Darunter fallen natürlich Stellungen, in denen nur noch beide Könige auf dem Brett sind oder eine Seite noch eine Leichtfigur besitzt. Doch schon solche trivialen Remis-Endspiele wie "König gegen König und Randbauer (verteidigender König vor dem Bauern)" oder "König gegen König und 2 Springer" sind nach dieser Regel nicht remis. Im ersten Fall könnte der verteidigende König unmotiviert über's Brett laufen. Im zweiten Fall könnte man ohne Not in die Brettecke gehen, wo doch noch ein Matt möglich wäre – und bei hoher Zeitnot (nur dann wird man einen solchen "Gewinnversuch" unternehmen) muss man eben auch dem besten Spieler unterstellen, dass er extrem ungeschickt weiterspielt.

Sehen wir uns zur Illustration einige Stellungen an:
Beispiel 1
Das war einfach und wird wohl auch von jedem Spieler akzeptiert.

Beispiel 2
Dieser Fall ist schon etwas komplizierter und es kann geschehen, dass schwächere Spieler die Remis-Situation gar nicht erkennen. Eigentlich macht das nichts, denn selbst mit schlechtesten Zügen kann man die Partie nicht mehr verderben.
Doch wenn jetzt ein Spieler die Bedenkzeit überschreitet, hat er die Partie doch noch verloren.

Verändern wir die erste Beispielstellung nur geringfügig, so liegt die Sache aber schon anders:
Beispiel 3
Hier kann Schwarz mit einem groben Fehler noch verlieren. Die Stellung ist also nicht von Regel 9.6 abgedeckt. Dennoch wäre es wohl ungerecht, wenn ein Spieler hier den sehr einfachen Remisweg erkennt, aber durch Zeitüberschreitung noch verliert. Aus diesem Dilemma hilft uns Regel 10.2, doch dazu in der nächsten Trainingseinheit mehr…




  Final Fun

Heute geht es mal wieder um Partien, die völlig unnötig verloren wurden – oder auch nicht…

Unser erster Pechvogel ist der australische Schachmeister A. Sztern. Sein Gegner Lundquist bot ihm in verwickelter Stellung Remis an, ohne einen Zug auszuführen. Die Schachregeln verlangen aber, dass man mit dem Remisgebot zugleich seinen Zug ausführen soll. Anderenfalls darf der gegnerische Spieler mit seiner Stellungnahme warten, bis man gezogen hat.
So war Lundquist gezwungen, noch einmal nachzudenken – und er fand einen sehr schönen zwingenden Gewinnzug. Davon war Sztern so beeindruckt, dass er sofort aufgab. Natürlich hätte er immer noch das Remis annehmen können…
Sztern – Lundquist, Australien 1983

Noch verworrener ist der folgende Fall, der sich bei der Schacholympiade 1974 im Spiel zwischen Kanada und Island ereignete.
Die Kanadier holten hier einen 3:1-Sieg heraus, doch in allen offiziellen Berichten ist ein 2:2 verzeichnet. Maßgeblich dafür ist die Partie zwischen dem Internationalen Meister Lawrence Day und Ingvar Asmundsson.
Viel später stellte sich nämlich heraus, dass die Spieler versehentlich die Farben vertauscht hatten. So gewann Day mit den weißen Steinen und meldete auch in gutem Glauben einen Weiß-Sieg (1:0) als Ergebnis. Doch die Schiedsrichter notierten dieses 1:0 ohne weitere Prüfung im Formular und dort stand korrekterweise der Isländer als Weiß-Spieler.
Das falsche Ergebnis ging in alle Statistiken ein und noch heute geistert die Partie mit vertauschten Farben durch Literatur und Datenbanken.
Wahrscheinlich hatten auch die Spieler am Nachbartisch die Farben vertauscht. Doch da sie remis spielten, blieb das ohne Auswirkung.
Lawrence Day hat sich also gewissermaßen selbst geschlagen.
Hier nun ohne weiteren Kommentar die durchaus interessante Partie:
Day – Asmundsson, Nizza 1974

Auch als Mannschaft kann man von den eigenen Ideen geschlagen werden.
Mein Team verpasste 1993 den Aufstieg zur niedersächsischen Kreisliga als Zweiter hinter einem übermächtigen Gegner, weil eben nur die Staffelsieger aufsteigen durften. In der anderen Gruppe hätten wir sicher eine gute Chance gehabt. So beantragten wir für die Folgesaison die Einführung einer Aufstiegsrunde mit je 2 Mannschaften beider Staffeln. Der Vorschlag wurde mit großer Zustimmung angenommen…
Ein Jahr später wurden wir dann nach spannendem Kampf Staffelsieger – das hätte früher zum Aufstieg gereicht. Doch jetzt gab es ja die (von uns gewünschte) Aufstiegsrunde – und da lief es für uns etwas unglücklich. Der Sprung nach oben wurde erneut verpasst.

In die Kategorie der "Selbstzerleger" gehören auch jene Fälle, wo ein Spieler durch Zeitüberschreitung verliert, weil er glaubt die geforderten Züge schon geschafft zu haben. Meist ist ein Schreibfehler die Ursache: Man hat einen Zug doppelt notiert oder über zwei Zeilen geschmiert.
Einmalig ist aber wohl das Versehen, welches dem deutschen Großmeister Tarrasch beim internationalen Turnier in Hastings 1895 in der ersten Runde passierte: Er hatte seinen Namen in die Zeile für den ersten Zug geschrieben und sich daher bereits einen Zug weiter gewähnt…




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Thomas Binder, 2005 (ergänzt 2006)