Endspiel – Intensiv
Das "Zifferblattmodell"

Bild Bild Neben der Opposition gibt es auch für eine weitere Gruppe von Königsstellungen ein interessantes Hilfsmittel zur Abkürzung langwieriger Berechnungen. Es geht hier um Situationen, in denen beide Könige ebenfalls dicht beieinander stehen (Staudte spricht von "Tuchfühlung") aber nicht unbedingt den klassischen Oppositionsbegriff erfüllen. Wie man leicht sieht, gibt es genau 12 solche Stellungen – 4 davon sind zugleich Fälle von Nahopposition – und das bringt uns leicht auf den Gedanken, sie anhand der Zeigerstellung einer Analoguhr zu beschreiben. Die beiden kleinen Abbildungen zeigen die Stellungen "12 Uhr" (= senkrechte Nahopposition) und "10 Uhr". Zur einheitlichen Benennung dieser Positionen wird immer der schwarze König als Mittelpunkt des Zifferblatts betrachtet und der weiße König als umlaufender Zeiger.

Die Grundregeln

Ausgehend vom Zifferblattmodell lassen sich nun folgende Feststellungen treffen.

  1. Zieht einer der beiden Könige (ohne die Tuchfühlung aufzugeben), so ändert sich die Uhrzeit um eine Stunde.
  2. Ziehen beide Könige in die gleiche Richtung, ändert sich die Uhrzeit nicht.
  3. Ziehen beide Könige "etwa" in die gleiche Richtung, so kann sich die Zeit nur um maximal eine Stunde ändern. Ziehen sie in verschiedene Richtungen und geben dabei die "Tuchfühlung" auf, so ist das Zifferblattmodell nicht anzuwenden.

Anwendungen – Teil 1

Bild Blicken wir zunächst auf die links abgebildete Stellung.
Weiß ist am Zug. Für seinen Bauern a2 kann er offensichtlich nichts mehr tun. Er wird den Wettlauf der Könige verlieren. Dennoch kann Weiß auf ein Remis hoffen, wenn er den gegnerischen König auf den Feldern a1 und a2 einsperrt. Das gelingt ihm genau dann, wenn er rechtzeitig mit seinem König nach c1 oder c2 gelangt.

Reden wir nun in der Begriffswelt des Zifferblattmodells:
In der Ausgangsstellung ist es "12 Uhr". Wir streben eine Stellung (schwarzer König auf a2, weißer König auf c1 oder c2) an, in der es "3 Uhr" oder "4 Uhr" sein wird. Weiß muss also mindestens 3 Stunden gewinnen. Solche Überlegungen sind das zentrale Element des Zifferblattmodells.

Wie kann Weiß diese 3 Stunden herausholen?
Eine Stunde gewinnt Weiß nach Grundregel 1 durch seinen ersten Zug. Zwei weitere Stunden kann er gewinnen (Regel 3) wenn er zweimal diagonal ziehen kann, während Schwarz waagerecht ziehen muss.

Wenn man die Stellung unter diesem Aspekt betrachtet, findet man heraus, dass der überraschende Zug 1.Kg8-h8 die Aufgabe löst, während das naheliegendere 1.Kg8-f8? verlieren würde. Sehen wir uns beide Varianten genau an:
Studie von Sackmann, 1924 – Richtige Lösung mit Hilfe des Zifferblattmodells
Studie von Sackmann, 1924 – Widerlegung von Kg8-f8 mit Hilfe des Zifferblattmodells




Anwendungen – Teil 2

Bild Der direkte Weg für Weiß führt letztlich zum Verlust durch eine Zugzwangstellung. Doch die Anwendung des Zifferblattmodells führt auf die richtige Lösung: Weiß wird seinen Bauern auf b6 verlieren. Doch wenn er danach sofort die senkrechte Nahopposition einnehmen kann ("6 Uhr"), hält er Remis.
Studie von Grigoriew, 1931

Bild Bild Im nächsten Beispiel (nach einer Studie von Alijew) findet man die richtige Bewertung mit Hilfe des Zifferblattmodells sozusagen "vom Blatt". Es läuft darauf hinaus, dass Weiß (am Zuge) den Bauern a7 schlagen wird. Schwarz kann dann nur Remis erreichen, wenn er mit seinem König auf c7 oder c8 gelangt ("8 oder 9 Uhr-Stellung").
Nach einer relativ naheliegenden Zugfolge ist es (mit Weiß am Zug) "11 Uhr" (2. Bild).
In den folgenden 3 Zügen ziehen die Spieler zweimal in die gleiche Richtung (= keine Änderung der Uhrzeit) und einmal kann Schwarz ausweichen (= 1 Stunde gewinnen, laut Grundregel 3). Damit erreicht Schwarz die "9 Uhr-Stellung" nicht mehr und kann die Partie nicht remis halten.

Die folgende Partie zweier namhafter Meister hätte einen anderen Ausgang genommen, wenn sich Weiß des Zifferblattmodells bedient hätte.
Schlage – Ahues, Berlin 1921




Inhalt und Partiebeispiele dieser Arbeit basieren auf einem Dokument des erfolgreichen und engagierten sächsischen Schachtrainers Rainer Staudte. Wir danken Herrn Staudte für die Genehmigung, sein Material hier zu verwenden.

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Thomas Binder, 2008