Die Schach-WM 2010

Der Wettkampf um die Schach-Weltmeisterschaft im Frühjahr 2010 war für die Fans in aller Welt derart elektrisierend, dass wir ihn hier noch einmal ausführlich betrachten wollen. Viswanathan Anand und Wesselin Topalow lieferten sich einen hoch interessanten Zweikampf mit vielen farbigen Partien. Schon während der Spiele wurde im Internet emotional diskutiert, noch Wochen danach sind nicht alle Feinheiten ausanalysiert. Die Kommentatoren und Zuschauer waren natürlich mit moderner Computer-Power bewaffnet. Schnell entdeckten sie "Löcher" in den Kombinationen der Großmeister und neue Ideen für ihre jeweiligen Idole. Doch vor Ort spielten Menschen aus Fleisch und Blut, machten Fehler, wurden nervös oder konnten sich plötzlich nicht mehr richtig an die Vorbereitung erinnern. Wie im richtigen Leben also – und dadurch erst so richtig schön…

Die Spieler

Viswanathan Anand

Bild Anand wurde 1969 in Indien geboren. Nach seiner Heimatstadt wird er auch der Tiger von Madras genannt. In jungen Jahren erlernte er das Schachspiel und war bald der führende Nachwuchsspieler Indiens. Schon als 14jähriger stand er erstmals in der Nationalmannschaft seines Landes bei der Schacholympiade. 1987 wurde er Junioren-Weltmeister. Seit etwa 1990 gehört er zur absoluten Weltspitze und stand regelmäßig in den Kandidatenturnieren um die Weltmeisterschaft. 1995 verlor er den WM-Kampf gegen Garri Kasparow und 1998 (nach der Spaltung der Schach-Welt in zwei Verbände) gegen Anatoli Karpow.

Im Jahre 2000 gewann Anand die Weltmeisterschaft des Verbandes FIDE, die damals allerdings im Schatten der konkurrierenden "Profi"-Titelkämpfe stand. Schließlich kam es zur Wiedervereinigung der beiden Wettkampf-Systeme und Anand wurde 2007 als Turniersieger in Mexiko unumstrittener Weltmeister. Diesen Titel verteidigte er 2008 in Bonn gegen Wladimir Kramnik und musste sich nun dem Herausforderer Topalow stellen.

Viswanathan Anand hat dank seines jederzeit korrekten, bescheidenen und sympathischen Auftretens Anhänger auf der ganzen Welt und in allen Kulturkreisen. Schachlich liegt seine besondere Stärke im Schnellschach. Er spielt kreativ und intuitiv. In früheren Jahren wurde ihm eine gewisse Schwäche im Endspiel nachgesagt. Ob dieses Urteil noch zutrifft, werden wir auch beim WM-Kampf gegen Topalow erfahren.

Wesselin Topalow

Bild Wesselin Topalow wurde 1975 in Bulgarien geboren. Er erlernte das Schachspiel als 7jähriger und hatte schon in seiner Jugend große Erfolge. 1989 wurde er Weltmeister der Altersklasse U14. Seit Mitte der 1990er-Jahre gehört Topalow zu den stärksten Großmeistern der Welt.
Den Höhepunkt seiner Karriere hatte Topalow um das Jahr 2005. Er gewann praktisch alle großen Turniere der Weltklasse und wurde schließlich mit überlegenem Vorsprung Weltmeister des Verbandes FIDE. Den Vereinigungskampf der beiden Wettkampf-Systeme verlor er dann ein Jahr später knapp gegen Wladimir Kramnik. Auch in der Folge platzierte sich Wesselin Topalow bei den besten Turnieren der Welt an der Spitze und qualifizierte sich schließlich für die Herausforderung von Weltmeister Anand.

Wesselin Topalow gilt als kompromissloser Kämpfer, der aus jeder Partie, jeder Stellung das maximal mögliche herausholen will. Er liebt Stellungen, in denen er die Initiative besitzt, ist bereit dafür auch einen Bauern oder gar eine Qualität zu opfern. Andererseits wird ihm nachgesagt, dass seine Fähigkeiten in der Verteidigung nicht ganz so gut sind und er – mit den Maßstäben eines Weltmeisters gesehen – relativ viele Fehler macht.
Während ihm seine schachlichen Qualitäten unter den Schachanhängern in aller Welt viele Bewunderer eingetragen haben, verscherzte er sich einiges an Sympathien, als aus seinem Umfeld beim WM-Kampf 2006 offenbar haltlose Vorwürfe gegen seinen Gegner Kramnik vorgebracht wurden. So dürfte auch vor diesem WM-Kampf eine knappe Mehrheit der Beobachter auf Seiten Anands mitgefiebert haben.

Bilder und biographische Informationen aus der deutschsprachigen Wikipedia
Die wörtlich zitierten Passagen entstammen den sehr ausführlichen und lesenswerten Interviews beider Spieler mit der Zeitschrift SCHACH, Ausgabe 6/2010.

Der WM-Kampf

Den WM-Kampf über 12 Partien (ggf. mit anschließendem Stichkampf im Schnellschach) wollen wir nun aus der Perspektive des Live-Beobachters verfolgen und die ungeheure Spannung noch einmal erleben.

Die Partien 1 bis 5

Das Match begann in einem für WM-Kämpfe ungewöhnlichen Tempo: 3 der ersten 4 Partien fanden einen Sieger – wobei jeweils der Führer der weißen Steine triumphierte. Die Öffentlichkeit nahm dies mit großer Begeisterung auf, hatte man doch (z. B. 1984) schon WM-Kämpfe gesehen, in denen 17 und später noch einmal 14 Partien am Stück mit einem Remis endeten.

1. Partie

Es beginnt mit einem Paukenschlag: Topalow gewinnt die Auftaktpartie mit scheinbarer Leichtigkeit. Zugleich erhalten wir einen interessanten Einblick in die Vorbereitung der Großmeister auf einen solchen Wettkampf. Nach nur einer halben Stunde Spielzeit waren die Spieler im 23. Zug angekommen – und das bei einer außerordentlich komplizierten und zweischneidigen Stellung.
Doch dann geschah etwas Unvorstellbares. Anand machte den spielentscheidenden Fehler und wie sich später herausstellte hatte er seine Vorbereitung vergessen. Er vergaß einen wichtigen Zug und stand sofort am Abgrund.
1. WM-Partie 2010
Wir haben einen Eindruck bekommen, wie intensiv sich die Spieler auf den WM-Kampf vorbereiten. In diesem Falle war also Topalow besser gewappnet. Die Zuschauer waren ob der Leichtigkeit seines Erfolges irritiert. Doch schon am nächsten Tag bekam Anand Gelegenheit, sich zu revanchieren.

2. Partie

Aus der 2. Partie bleibt zunächst eine Phase am Ende der Eröffnung in Erinnerung. Diesmal hat Anand einen Bauern geopfert und erneut sind die schwarzen Figuren etwas in der Entwicklung zurück geblieben. Doch dann traf der Inder eine Entscheidung, die seine Anhänger in aller Welt die Köpfe schütteln ließ. Er bot völlig überraschend einen Damentausch an, obwohl er bei einem Minusbauern auch noch einen isolierten Doppelbauern am Rand bekam. In einem sehr guten Kommentar lese ich vom meist diskutierten Zug des Jahres 2010. Nun – da gab es in dieser WM einige, aber dieser gehört dazu.
2. WM-Partie 2010
Sicher werden sich Möglichkeiten finden, die Verteidigung des Herausforderers zu verbessern. Doch dem Zuschauer erscheint es eindrucksvoll, wie Anand mit einfachen Manövern seine merkwürdige Entscheidung für den Damentausch gerechtfertigt hat. Besonders wichtig war aber, dass er nach dem Desaster in der 1. Runde sofort zurückschlagen konnte. Es steht 1:1.

4. Partie

Nach einem Remis in der 3. Runde folgt nun eine Partie, während und nach der die Emotionen große Wellen schlugen. Geradezu wie ein Anfänger wird Topalow vorgeführt. Sein Zug h7-h6 ist eines dieser Manöver, die man als Trainer selbst einem U12-Spieler vorwurfsvoll unter die Nase reibt. Aber wenn der WM-Herausforderer so etwas spielt, gelten sicher andere Maßstäbe…
Sei’s drum – erfreuen wir uns daran, wie "Vishy" die gebotene Chance mit großartigem Angriffsspiel nutzt.
4. WM-Partie 2010
Auch in der 5. Partie folgte ein Remis. In Erinnerung bleibt diese Partie aber vor allem, weil die Spieler nach gut einer halben Stunde wegen eines Stromausfalls im Dunkeln standen. Sie verharrten ruhig auf ihren Plätzen und nach 13 Minuten war das Problem behoben. Ein weiteres Beispiel dieser filigranen Abhängigkeit des Menschen von der Technik hatte es schon vor Beginn des Wettkampfes gegeben: Nach einem Vulkanausbruch im fernen Island war der Flugverkehr in ganz Europa für einige Tage unterbunden. So konnte Anand nicht pünktlich anreisen und die WM begann mit einem Tag Verspätung.

Erste Zwischenbilanz

Die Schachwelt ist begeistert: In den ersten 5 Runden gab es schon 3 entschiedene Partien, dazu zwei keineswegs langweilige Remisen. Aufregende Partien, Angriffsschach von beiden Spielern – und hier und da auch mal ein "menschlicher" Fehler. Anand führt 3:2 und die bisherigen Partien scheinen eine klare Dominanz der Weißspieler anzudeuten. Nicht wenige Beobachter – mich eingeschlossen – gingen nun von einer Vorentscheidung zu Gunsten des Inders aus. Er hat die Auftaktniederlage bewundernswert weg gesteckt und die Führung übernommen. Mehr noch: Er wird in den beiden nächsten Partien Weiß haben, denn bei Halbzeit wird der Rhythmus des Farbwechsels umgekehrt. Und bisher gab es in diesem Match für die Weißspieler eine Quote von 80%! Ich scheue mich nicht, meine (Fehl)prognose zuzugeben: Anand holt in Runde 6 und 7 mit Weiß mindestens 1½ Punkte und das ist dann die Entscheidung.

Die Partien 6 und 7

Die Prognose ging nicht auf. In beiden Partien hielt Topalow remis und fand damit so langsam wieder in das Match zurück. Beide Partien waren interessant, doch echte Gewinnchancen gab es für keinen Spieler.
3x Remis in Folge – aber es waren keine Kurzremisen, wie man sie von früheren Weltmeisterschaften kennt. Die Partien 5, 6 und 7 dauerten zusammen 160 Züge; die 3 entschiedenen Partien hatten hingegen nur 105 Züge beansprucht.

Die Partien 8 und 9

Für den Verlauf des Wettkampfes kann man auch die beiden folgenden Partien als eine Einheit betrachten, zeugen sie doch von einem gewissen Umschwung der Stimmung. Topalow scheint nun endgültig Oberwasser zu gewinnen und den Titelkampf für sich zu entscheiden.

8. Partie

Es wird noch einmal eng für Anand. Nach anstrengender Verteidigung erreicht er ein Endspiel mit ungleichen Läufern bei einem Minusbauern. In jedem Lehrbuch steht, dass bei solchen Endspielen die Tendenz zum Remis sehr groß ist. Das gilt auch hier. Aber der Spieler mit dem materiellen Rückstand muss eben sehr genau spielen. Angesichts der riesigen Anstrengung nach acht gehaltvollen Partien unterläuft auch dem Weltmeister ein überraschender Fehler.
8. WM-Partie 2010

In einem Interview gab Anand zu dieser Partie noch einen Einblick in seinen Gedankenprozess. Er weist uns auf eine Stellung hin, die er vorhergesehen aber falsch bewertet hatte. Das darin enthaltene Motiv (ein Läufer deckt zwei Bauern und kann selbst nicht geschlagen werden) kommt in Endspielen mit ungleichen Läufern öfter vor. Ich konnte unlängst in einer eigenen Partie (siehe vorhergehende Trainingseinheit) davon profitieren.
Variante zur 8. WM-Partie

9. Partie

Auch über die 9. Partie wird noch viel diskutiert werden. Anand lässt mehrere klare Gewinnchancen aus. Wie schon in der 2. Runde hätte er sofort nach der Niederlage die Chance zum "Gegentor" gehabt. Doch diesmal lässt er es auf erstaunliche Weise an der notwendigen Konsequenz fehlen. Das lange WM-Match hat eben auch bei ihm Kräfte gekostet.
9. WM-Partie 2010
Die öffentliche Wahrnehmung dieser Partie zeigt übrigens, wie sich das Schach gewandelt hat. Früher hätte man die Notation Monate später aus Zeitungen erfahren. Angesichts des späteren Ausgangs wäre die 9. Partie vermutlich sogar als "unwichtig" abgetan und nicht ausgiebig analysiert worden. Allenfalls ein paar Großmeister hätten vielleicht die vertanen Chancen des Angreifers entdeckt, in die breite Schachgemeinde wären diese nicht vorgedrungen.
Heute sitzen Millionen schachbegeisterte Amateure am Rechner und verfolgen die Partien in Echtzeit. Sie lassen Programme mitlaufen, die stärker spielen als Anand und Topalow zusammen und sie schimpfen in Foren oder Chats über die Fehler der Großmeister noch bevor diese ihre Partie beendet haben. Man kann darüber lamentieren und das Ungleichgewicht beklagen – man kann sich auch darüber freuen, dass wir dieses unmittelbare Erlebnis nun auch im Schach haben, wie wir es von anderen Sportarten schon lange kennen.

Zweite Zwischenbilanz

Welch eine dramatische Wende: In den letzten 4 Partien ist für den Weltmeister so ziemlich alles schief gelaufen.

Die Stimmung der interessierten Zuschauer in aller Welt hat sich gewandelt. Nun glaubt die Mehrheit an einen WM-Erfolg für Wesselin Topalow. In den letzten Partien wirkte er klar besser, machte weniger Fehler als Anand. Außerdem hat er in den verbleibenden 3 Partien 2x Weiß, was nach dem bisherigen Matchverlauf ein klarer Vorteil zu sein scheint. Mit meiner Einschätzung, dass die Chancen nun bei 50/50 lägen, war ich wohl aus Anand-Sicht schon einer der optimistischeren Beobachter.

Die Partien 10 und 11

Das nüchterne Ergebnis ist schnell erzählt: Beide Partien endeten remis. Doch in beiden Partien stand Anand gehörig unter Druck. Wirklich klare Gewinnstellungen hatte der Bulgare zwar nicht, doch auf jeden Fall waren seine Chancen größer, hatte er die angenehmer zu spielenden Stellungen. Das Fazit nach der 9. Runde scheint sich also zu bestätigen: Topalow wird immer stärker, Anand ist dem Druck nicht gewachsen – oder?

Es kommt zum Showdown. Vor der letzten Partie steht es unentschieden. Wenn es dabei bleibt, folgt ein Stichkampf mit Schnellschach-Bedenkzeit – und das ist Topalows Problem:
Anand gilt als der überragende Schnellschach-Spieler, war in dieser Disziplin bereits Weltmeister. Außerdem hatte Topalow schon einmal einen WM-Kampf im Schnellschach-Finale verloren, 2006 gegen Kramnik.
Also muss er nun alles versuchen, diese 12. Partie zu gewinnen. Vielleicht setzte sich Topalow selbst zu sehr unter Druck. Er hatte einen eventuellen Stichkampf wohl schon im Voraus abgehakt, sagte im Interview: "Für mich ist es egal, ob ich die letzte Partie verliere oder den Tiebreak". Dabei wäre es gar nicht klar gewesen, ob Anand seinen unbestreitbaren Schnellschach-Vorteil in der konkreten Situation ausgespielt hätte. Er war (siehe oben) offensichtlich nicht in Hochform, während der Herausforderer gerade die Initiative übernommen hatte…

Die 12. Partie

Nun liegt also der Druck bei Topalow. Und in solchen Situationen treffen selbst die stärksten Spieler der Welt Entscheidungen, die man rational nur schwer erklären kann. Sehen wir also ohne Vorkommentar die entscheidende Phase der letzten Partie.
12. WM-Partie 2010
Am Ende war wohl Topalow dem Druck des Gewinnen-Wollens (oder -Müssens?) nicht gewachsen. Eine Panik-Entscheidung bringt ihn auf die Verliererstraße und öffnet Anand den Weg zum einzigen und entscheidenden Schwarzsieg des Matches.

Fazit

Die Schachwelt hat einen würdigen Weltmeister, der sich gegen einen ebenso würdigen Herausforderer in einem begeisternden Wettkampf durchgesetzt hat. Noch längst sind nicht alle Feinheiten der zwölf Partien ergründet. Zeitschriften, ja Bücher wird man mit den Analysen füllen und die Diskussion in Internet-Foren geht weiter. Wir konnten hier nur die Kulminationspunkte herausgreifen und haben uns in den Varianten auf das verständliche Maß beschränkt. Viele spannende Momente, vor allem aus den sieben Remis-Partien, bleiben hier im Verborgenen.
Aber einen Eindruck sollte diese Zusammenstellung vermitteln. Man kann es nicht besser sagen, als der alte und neue Weltmeister:
"Wir kämpften wie die Tiere."




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Thomas Binder, 2010