Schach-WM 2013

Mit der Weltmeisterschaft im November 2013 übernahm der junge Norweger Magnus Carlsen die Herrschaft über die Schachwelt. Er besiegte den Inder Viswanathan Anand in dessen Heimat sehr deutlich mit 6½ : 3½.
Ich möchte zunächst kurz eine sehr subjektive Darstellung der aktuellen Lage ins Gespräch bringen.

Die Weltmeister und ich – sehr subjektive Gedanken

Die erste Schach-Weltmeisterschaft, an die ich mich bewusst erinnere, ist jene von 1969. Sie war letztlich für den damals 8jährigen Jungen der Anlass, dieses königliche Spiel erlernen zu wollen. Seither waren die Weltmeister des Schachspiels immer Menschen, zu denen man in jeder Hinsicht aufschauen konnten. Sie waren nicht nur die stärksten Schachspieler ihrer Zeit, sondern auch herausragende Persönlichkeiten – Vorbilder in jeder Hinsicht.
Bezüglich des Ex-Weltmeisters Karpow habe ich diese Haltung inzwischen zwar etwas revidiert, aber seine nicht über jeden Zweifel erhabene Haltung zur kommunistischen Diktatur kann man aus der Zeit heraus gewiss nachvollziehen.

Alle Weltmeister nach Karpow (also ab 1985) gehörten zu jüngeren Jahrgängen, aber immer noch etwa zu meiner Generation. Sie blieben für mich Vorbilder nicht nur am Schachbrett sondern auch in ihrem persönlichen Auftreten. Zuletzt war natürlich "Vishy" Anand ein besonders herausragender Exponent dieser Qualitäten – ein würdiger Repräsentant der Schachwelt.

Diese Zeiten sind nun vorbei!

Der neue Weltmeister Magnus Carlsen gehört nun zu einer deutlich jüngeren Generation. Aus meiner subjektiven Sicht und mit dem Abstand von drei Jahrzehnten Lebenserfahrung gehört Carlsen für mich in eine andere Kategorie. Eine wörtliche Bezeichnung dieser Kategorie will ich hier aus nachvollziehbaren Gründen lieber nicht zitieren…
Jedenfalls sehe ich es kritisch, dass ein Mann von seinem persönlichen Profil nunmehr in der Öffentlichkeit als die Nr. 1 der Schachwelt wahrgenommen wird, dass damit auch viele (negative) Vorurteile über Schachspieler scheinbar eine Bestätigung erfahren.

Bild Welches Schach spielt Carlsen?

Bei allen Vorbehalten gegen seine Person fällt es leicht anzuerkennen, dass Magnus Carlsen der mit Abstand stärkste Schachspieler der Gegenwart ist. Seit 2010 ist er die Nummer 1 der FIDE-Weltrangliste. Mehrfach hat er den ELO-"Weltrekord" verbessert. Die Marke von 2900 scheint nicht mehr unerreichbar. Mit dem sehr deutlichen Sieg über den Titelverteidiger hat Carlsen nun völlig verdient auch den Weltmeistertitel erobert. Es ist anzunehmen (zu befürchten?), dass für lange Zeit kein ebenbürtiger Gegner in Sicht ist.

Carlsens schachlichem Stil fehlt die große Attraktivität, die gerade seine Vorgänger auf dem WM-Thron ausgezeichnet hat. Er geht gewöhnlich sehr wenig Risiko ein. Er bevorzugt es, die Stellungen zu vereinfachen und ohne große Verwicklungen in ein Endspiel überzuleiten. Dort spielt Magnus Carlsen dann seine große Stärke aus. Wie kein anderer Spieler versteht er es, in scheinbar völlig ausgeglichenen Endspielen verborgene Ressourcen und kleinste Vorteile aufzuspüren und auszunutzen. Oft kann man auch im Nachgang schwer erklären, warum es ihm gelungen ist, die Gegner (allesamt natürlich Top-Großmeister) noch zu einem Fehler zu verleiten.

Der WM-Kampf 2013

Regularien und Ausgangsposition

Carlsen ging als klarer Favorit in den WM-Kampf. Wohl selten zuvor standen die Wetten so deutlich gegen den Titelverteidiger. Viswanathan Anand befand sich in einer Formkrise, war in der FIDE-Weltrangliste bis auf Platz 8 abgerutscht. Die ELO-Differenz beider Spieler betrug fast 100 Punkte. Für den Inder sprach allenfalls seine größere Erfahrung in Match-Wettkämpfen.
Das Match Carlsen – Anand war auf 12 Runden angesetzt. Bei Gleichstand würde eine Verlängerung folgen. Erreicht ein Spieler vorzeitig einen uneinholbaren Vorsprung, ist die WM entschieden.

Subjektive Sicht des Anand-Fans

Der Zweikampf um die Weltmeisterschaft zwischen Anand und Carlsen war für mich – subjektiv – auch deshalb so enttäuschend, weil er absolut vorhersehbar verlaufen ist.
Carlsen versuchte in allen Partien konsequent, die Stellungen zu vereinfachen und in den entstehenden Endspielen nach Gewinnchancen zu suchen. Anand hatte diesem absehbaren Verlauf nichts entgegen zu setzen. Ich vermisste diesmal bei ihm die sonst so großartige Kreativität und die sportliche Risikobereitschaft.

Minderheits- aber nicht Einzelmeinung

Natürlich überwiegt wenige Wochen nach dem WM-Kampf die Zahl derer, die gedanken- und kritiklos in die Loblieder auf den neuen Weltmeister einstimmen. In den einschlägigen Internet-Foren gibt es aber auch andere Stimmen. Dabei fällt auf, dass diese Argumente meist wesentlich tiefgründiger analysiert und fundiert ausgearbeitet sind.

Besonders freue ich mich, dass ein prominenter Schach-Experte – und gewiss nicht nur er allein – meine Sicht der Dinge teilt. Der Ehrenpräsident des Deutschen Schachbundes Prof. Robert von Weizsäcker sagte in einem Rundfunkinterview u.a. "Carlsen hat gewonnen, weil er der bessere Sportler und nicht der bessere Schachspieler ist. … Die Stellung ist im Grunde remis. Aber er spielt immer weiter und sitzt Anand aus." – "Ich kenne keine Weltmeisterschaft, die ich so enttäuschend fand." Er bezeichnete die Strategie von Carlsen als "nicht überzeugend". Carlsen habe Anand "nicht überspielt, sondern einfach keine Fehler gemacht, abgewartet und dann zugeschlagen." Die Spielweise des neuen Weltmeisters nannte der Wirtschaftsprofessor "blutleer und seelenlos".

Der Schriftsteller und Schachspieler Helmut Krausser scheint klare Sympathien für Anand zu hegen. Gerade deshalb geht er mit seinem Idol scharf ins Gericht. Er wirft Anand vor, den Wettkampf mehr oder weniger kampflos abgegeben zu haben. An vielen Stellen trifft sich seine Meinung mit meiner Sicht der Dinge, z. B. wenn er schreibt: "Den eigentlichen Skandal dieses Matches bildeten die Partien sieben und acht, in denen von Viswanathan Anand endlich ein Aufbäumen hätte kommen müssen…". Sein Urteil über den neuen Weltmeister enthält u.a. den Satz "Magnus Carlsens Obsession, eine Partie bis zur allerletzten Ressource auszuspielen, wie es sogar in einer Partie der laufenden WM vorkam, hat manchmal etwas für den Gegner geradezu Respektloses."

Runde für Runde im Überblick

Die Partien 1 bis 4

In den ersten vier Partien konnte Anand noch Stand halten. Carlsen kam zwar in seine Lieblings-Konstellation, fand aber jeweils keinen Gewinnweg. Man konnte noch auf einen günstigen Verlauf für Anand hoffen.

Die Partien 5 bis 6

Die beiden folgenden Partien verliefen so, wie man es – zumindest auf der Seite des Titelverteidigers – befürchten musste. Erneut gelangten die Spieler schnell ins Endspiel. Carlsen schaffte in beiden Fällen das "Unmögliche" – oder eben Carlsen-Typische: Er fand Mittel, um einen kleinen Vorteil zu kämpfen und bestrafte Anands zunächst kaum wahrnehmbare Ungenauigkeiten konsequent.
Zwei Siege für Magnus Carlsen und damit die fast schon desillusionierende 4:2–Führung bei Halbzeit der angesetzten 12 Partien.

Die Partien 7 bis 8

Das ist dann wohl die Phase, in der man als Anand-Fan so richtig mit seinem Idol hadert. Es gelang ihm (noch) nicht, auf höhere Risikobereitschaft umzuschalten. Der Rückstand im Wettkampf hätte dies zwingend erfordert. In beiden Partien wurde schnell zu einem ausgeglichenen Endspiel vereinfacht. Beide Partien endeten frühzeitig mit Remis.

Die Partien 9 und 10

Endlich zeigte Anand seine kreative Stärke, wechselte die Eröffnung und spielte in Runde 9 eine begeisternde Angriffspartie. Als es so richtig spannend wurde – Carlsen musste sich sehr genau verteidigen – unterlief dem bisherigen Weltmeister ein unbegreiflicher Patzer und die Partie war sofort verloren.
Damit war der Wettkampf nun endgültig zu Gunsten des Herausforderers entschieden. Ein Remis in Runde 10 besiegelte vorzeitig den Wechsel an der Spitze des Weltschachs.

Die wichtigsten Partien

Nach vier umkämpften Remispartien konnte Carlsen in Runde 5 erstmals gewinnen. Diese Partie gibt uns einen ersten Eindruck davon, wie er gezielt bereits ausgangs der Eröffnung auf ein leicht vorteilhaftes Endspiel zusteuert.
Carlsen – Anand, Indien 2013 – 5. Partie, 1. Szene
In der Fortsetzung des Endspiels unternahm Anand durchaus einige aktive Versuche am Königsflügel und brachte Carlsen in Bedrängnis. Jedoch erhielt er keine verwertbaren Vorteile. Der Verlauf der Schlussphase ist hingegen typisch für das aktuelle Kräfteverhältnis beider Spieler und für Carlsens chirurgisch genaue Endspielführung.
Carlsen – Anand, Indien 2013 – 5. Partie, 2. Szene

Einen Tag später fiel die Vorentscheidung mit Carlsens zweitem Sieg in Folge. Erneut knetete er in einem ausgeglichenen Endspiel so lange, bis Anand eine kleine Ungenauigkeit unterlief.
Anand – Carlsen, Indien 2013 – 6. Partie

Die Entscheidung fiel praktisch in der 9. Runde. Erstmals im Wettkampfverlauf ging Anand die Partie offensiv an. Er scheute nicht das Risiko, einen Bauernsturm am Königsflügel loszutreten. Wir schalten uns in einer Phase in die Partie ein, da der Angriff des bisherigen Weltmeisters scheinbar unwiderstehlich durchdringt.
Anand – Carlsen, Indien 2013 – 9. Partie




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Thomas Binder, 2013

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