Trainingsmaterial Nr. 30

Inhaltsverzeichnis

Einführung in die Schachstrategie – Folge 10
Entfesselungskombinationen
Hausaufgabe
Schach-Spielarten – Folge 3
Mitrofanows Ablenkung
Final Fun




  Einführung in die Schachstrategie
Heute: Angriff bei entgegengesetzten Rochaden

Wenn beide Spieler nach verschiedenen Seiten rochieren (man redet von entgegengesetzten oder "heterogenen" Rochaden), entwickelt sich das Spiel oft auf ganz typische Weise. Wir haben bereits einige Partien mit diesem Motiv gesehen. Nun wollen wir das Wissen dazu zusammenfassen.

Das wichtigste Merkmal dieser Stellung ist, dass die Könige auf verschiedenen Flügeln stehen. Beide Spieler werden also auf der Seite angreifen, wo der gegnerische König steht. Weil nun aber der eigene König am anderen Flügel (hoffentlich) in Sicherheit ist, kann man bedenkenlos mit den eigenen Bauern vorstürmen und den Angriff der Figuren unterstützen.
Der Gegenspieler wird natürlich auf "seinem" Flügel genauso agieren.
Das Ergebnis ist klar: Wer schneller und konsequenter angreift, wird gewinnen.

Wir wollen nun verschiedene Aspekte von Partien mit heterogenen Rochaden an Beispielen aus der Großmeisterpraxis erforschen.


Zunächst 2 Beispiele, in denen ein erfolgreicher Angriff gegen die kurze Rochade entlang der g-Linie geführt wird.

Unsere erste Partie führt uns wieder der deutsche Großmeister und WM-Kandidat Siegbert Tarrasch (1862 – 1934) – der "Lehrmeister der Deutschen", wie er damals genannt wurde – vor. 1894 in Leipzig wurde er zum dritten und letzten Mal deutscher Meister. In der folgenden Partie besiegt er den Letzten des Meisterturniers, Theodor von Scheve (1851 – 1922), einen Spieler der ebenfalls einige bedeutende Turniererfolge aufzuweisen hat.
Tarrasch – von Scheve, Leipzig 1894

Eindrucksvoll und kurios zugleich ist die folgende Angriffspartie des Österreichers Alfred Beni.
Beni – Schwarzbach, Wien 1969

Nicht immer ist es so einfach, die Linien für den Königsangriff zu öffnen. Oft muss man dies durch Opfer erzwingen.
Sehen wir dazu zunächst eine Partie von Großmeister Juri Awerbach.
Awerbach – Sarwarow, Moskau 1959

Weiter geht's auf höchstem Niveau. Die folgende Partie spielte der spätere Weltmeister Fischer als 15jähriger(!) beim Interzonenturnier – also der WM-Qualifikation – im jugoslawischen Portoroz gegen den dänischen Großmeister Larsen.
Gerade in dieser Partie lohnt es, die Nebenvarianten nachzuspielen. In allen Fällen erlangt Weiß mit schönen Zügen einen effektvollen Sieg.
Fischer – Larsen, Portoroz 1958

Keineswegs gewinnt immer der Angriff gegen die kurze Rochade. Es kommt natürlich auch vor, dass der Angreifer gegen die lange Rochade schneller und erfolgreich ist. Wir wollen uns auch dazu 2 Beispiele anschauen.

Zunächst sehen wir eine Partie des Großmeisters und Fernschach-Weltmeisters Jakob Estrin (1923 – 1987). Er unterlag hier dem eigentlich weniger hoch zu wertenden Internationalen Meister Gavril Weressow (1912 – 1979).
Estrin – Weressow, Sowjetunion 1962

Im letzten Beispiel begegnet uns wieder einmal der polnische Großmeister Akiba Rubinstein (1882 – 1961), der Anfang des 20. Jahrhunderts neben Weltmeister Lasker zu den stärksten Spielern der Welt gehörte. Er besiegt hier den oftmaligen Schweizer Meister Paul Johner (1887 – 1938), dessen Karriere im Schatten seines noch erfolgreicheren Bruders Hans stand.
Johner – Rubinstein, Teplitz-Schönau 1922
Diese beiden Partien haben gezeigt, wie der weiße Angriff stecken geblieben ist und Schwarz sich mit energischen Zügen am anderen Flügel durchsetzt.

Die Analysen basieren auf einem Buch von 1988. Mit den heutigen Möglichkeiten des Computers kann selbst ein durchschnittlicher Spieler kleine Unsauberkeiten in den meisterlichen Analysen aufdecken.




  Entfesselungskombinationen

Aus der 22. Trainingseinheit kennen wir bereits den Begriff der "Fesselung". Wenn es nun gelingt, diese gewinnbringend aufzuheben, spricht man folgerichtig von der "Entfesselung".

Eine Entfesselung kann prinzipiell auf 2 Arten erfolgen:

Das bekannteste Beispiel für eine "ignorierte" Fesselung ist das berühmte Seekadettenmatt. Wir haben es bereits in der allerersten Trainingseinheit kennen gelernt. Der gefesselte Springer zieht ab, überlässt die eigene Dame ihrem Schicksal und beteiligt sich erfolgreich an der Mattsetzung des gegnerischen Königs.
Ein sehr schönes Beispiel lieferte der jugoslawische Großmeister Svetozar Gligoric in einer Partie aus dem Turnier in Belgrad 1962, welches er gewinnen konnte. In den 50er und frühen 60er-Jahren gehörte Gligoric zur absoluten Weltspitze.
In diesem Fall macht er sich bei der Entfesselung die Schwäche der gegnerischen Grundreihe zu Nutze.
Maric – Gligoric, Belgrad 1962

Ein geschärftes Auge für Mattbilder hilft der Weißspielerin, in der folgenden netten Partie eine Entfesselung zu finden.
Battsetseg – Mora, Polen 1991

Geradezu legendär ist die folgende Partie des bereits häufiger zitierten Großmeisters Edmar Mednis – und das obwohl er die eigentliche Entfesselungskombination gar nicht fand. Es war der Internationale Meister Al Horowitz (1907 – 1973), der nach der Partie die überraschende Entdeckung machte. Schade um die vergebene Chance – und schön, dass die Wahrheit doch noch an's Licht gekommen ist.
Interessant übrigens auch der Hinweis auf einen klitzekleinen Fauxpas der früheren Kommentatoren…
Mednis – Collins, USA 1954

Sehr lehrreich ist das folgende Beispiel. Der Sieger bezieht eine gegnerische Figur in seine Entfesselungskombination mit ein.
Tavornier – Gradner, 1952

In der nächsten Partie gelingt es, die Fesselung durch ein einfaches Manöver aufzuheben. Bei der inoffiziellen Schacholympiade 1936 unterlag der Ungar Lajos Asztalos (1889 – 1956) dem Dänen Björn Nielsen (1907 – 1949).
Asztalos – Nielsen, München 1936
Auf einer starken Gegendrohung basiert die Aufhebung der Fesselung in der folgenden Partie des auch als Schachpsychologe bekannten Großmeisters Nikolai Krogius.
Krogius – Sergiewski, Sowjetunion 1959

Unser letztes Beispiel zeigt die Aufhebung der Fesselung durch Wegziehen der Zielfigur. So etwas funktioniert aber nur, wenn dieser Wegzug zugleich eine starke Drohung aufstellt.
NN – Lagerström, Berlin 1958




  Hausaufgabe

Wir lösen jetzt die Aufgaben aus Training Nr. 28 auf.
Dort wollten wir eine Stellung zum Thema "Verstellungsopfer" lösen.
Lösung der Hausaufgabe


Und hier nun die neuen Aufgaben für dieses Mal.

Wir sehen zwei Taktikaufgaben zum Thema "Fesselung". Damit ist schon ein wichtiger Hinweis zur Lösung gegeben.
Auch wenn sie vielleicht nicht so ganz leicht sind, werden die Aufgaben sicher Freude machen, denn die einfache Logik der zu findenden Kombinationen kann wirklich begeistern.
Aufgabe 1
Aufgabe 2




  Schach-Spielarten

Heute: Atomschach

Diese Bezeichnung für eine weitere Spielart mag man für geschmacklos halten. Schließlich haben Atomwaffen weit mehr Leid über die Menschheit gebracht, als am Schachbrett jemals denkbar ist. Aber der Begriff ist (einschließlich der englischen Übersetzung "Atomic Chess") weitgehend eingeführt – ob man es mag, oder nicht. Auch die Deutsche Schachjugend verwendet den Begriff in ihren Dokumenten.
Übrigens kann auch Atomschach auf einigen Internet-Servern gespielt werden.

Wesen des Spiels Immer wenn ein Stein geschlagen wird, explodieren die ihn umgebenden Felder. Das bedeutet, dass alle Steine auf den vertikal, horizontal und diagonal angrenzenden Feldern unabhängig von ihrer Farbe vom Brett genommen werden. Auch die schlagende Figur verschwindet vom Brett.
Das Spiel ist gewonnen, wenn der gegnerische König auf herkömmliche Art matt gesetzt wird oder nach einem Schlagen explodiert ist.
Regel-Besonderheiten Der König kann niemals eine gegnerische Figur schlagen, denn das würde ihn ja selbst "umbringen".
Umgekehrt kann man mit dem König unmittelbar neben den gegnerischen König ziehen, denn dieser darf ja nicht schlagen.
Taktische Kniffe Es hat sich eine eigene Eröffnungstheorie dieser Variante herausgebildet. Die klassischen Eröffnungsgrundsätze taugen hier nicht viel. Mehr dazu siehe unter den Links.
Varianten Die oben beschriebene Variante ist in Deutschland gebräuchlich. International ist es hingegen üblich, dass Bauern auf den benachbarten Feldern eines Schlagfalls nicht explodieren. Lediglich geschlagene und schlagende Bauern müssen vom Brett. Die Explosionsregel bezieht sich auf alle anderen Figuren.
Internet-Links Die Atomschach-Sektion auf der Chessvariants-Homepage: Chessvariants
Ausführliche Informationen (Englisch) gibt es auf Vlasov's Homepage: Vlasov's Seite
Dort findet man auch eine ausführliche Darstellung zum Eröffnungsspiel im Atomschach.



  Mitrofanows Ablenkung

Wir wollen uns heute einen der erstaunlichsten Züge der Schachwelt überhaupt ansehen. Er stammt aus einer Aufgabe des russischen Schachmeisters Leopold Mitrofanow (1932 – 1992), der seine Berühmtheit dieser einzigen phantastischen Idee verdankt. Über "Mitrofanows Ablenkung" sind ganze Bücher geschrieben worden und Tim Krabbé widmet ihr auf seiner Homepage ein ausführliches Kapitel.

Sehen wir zunächst, worum es eigentlich geht:
Auszug aus der Studie von Leopold Mitrofanow
Ohne alle Varianten zu betrachten, haben wir einen Eindruck davon bekommen, dass es für Weiß mit normalen Mitteln nicht möglich ist, dem Dauerschach zu entkommen.

Damit ist nun die große Stunde für Mitrofanows unwahrscheinlichen Ablenkungszug gekommen.
Lösung der Studie von Mitrofanow

Das war die Mitrofanow-Idee in Reinkultur. Doch schon 30 Jahre zuvor stellte der Rumäne Farago (nicht zu verwechseln mit dem ungarischen Großmeister gleichen Namens) eine Aufgabe zusammen, in welcher das gleiche Motiv zu sehen ist – garniert mit einem überraschenden Mattbild.
Studie von Farago, 1936




  Final Fun

Das ist wohl der Wunschtraum jedes Schachspielers: Matt setzen, ohne nachzudenken.
Und in der Tat gibt es (konstruierte) Stellungen, in denen über eine längere Zugfolge jeder Zug zum Matt führt. Auch die Möglichkeiten des Gegners sind entsprechend limitiert. Für solche Fälle wurde der treffende Ausdruck "no-brainers" eingeführt: Man braucht nicht nachzudenken, sondern nur einfach zu ziehen – das Matt ergibt sich von ganz allein.

Tim Krabbé hat auf seiner Homepage einige dieser kuriosen Partien veröffentlicht. Sehen wir an zwei Beispielen, wie solche Konstruktionen gebaut sind.

No-Brainer von V. Röpke, 1962

Recht ähnlich ist die folgende Studie. Zu Beginn kann Weiß zwischen 2 Wegen wählen. Auch innerhalb der Nebenvariante hat er einmal die Wahl zwischen 2 Zügen. Doch alle Zugfolgen münden schließlich in die gleiche Variante und enden im gleichen Mattbild. Es ist also völlig egal, welchen Zug Weiß jeweils auswählt.
No-Brainer von Noam Elkies, 2004




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Thomas Binder, 2004