Sehr früh erlernt der Schachanfänger, das auf dem Brett vorhandene Material abzuzählen. Dazu vermitteln ihm manche Trainer eine Art Zahlenskala, die durch einfaches Abzählen ergibt, ob man materiell im Vorteil ist und wenn ja, wie deutlich. Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich dieses rein numerische Verfahren ablehne. Ja – man erkennt vielleicht sogar den schlecht ausgebildeten jungen Schachspieler daran, dass er Materialwerte abzählt und sich dann um ein paar "Punkte" im Vorteil wähnt. Punkte gibt es aber im Schach nur für gewonnene Partien und nicht für zeitweiligen Mehrbesitz…
Dennoch ist es eine hübsche Spielerei, sich einmal die verschiedenen Skalen anzuschauen und sie zu diskutieren. Wir werden auch dabei etwas lernen können. Wesentliche Quelle dieser Daten ist die englischsprachige Ausgabe der Online-Enzyklopädie Wikipedia.
Die einfachste und bekannteste, aber wohl auch gröbste, Skala sieht etwa so aus:
Damit haben wir eine erste Übersicht. Sie verdeutlicht uns z. B., dass Springer und Läufer (also die sogenannten Leichtfiguren) gleichwertig sind. In der
Tat tauscht man in den meisten Fällen bedenkenlos diese Figuren gegeneinander ab. Wir werden aber gleich sehen, dass die meisten Autoren den Wert
des Läufers geringfügig höher einschätzen.
Kein Wunder sollte es sein, dass der König hier fehlt. Da man ihn ja nicht als "Tauschobjekt" einbringen kann, macht es natürlich auch keinen Sinn, ihn
dafür mit einem Wert einzustufen. Dessen ungeachtet geben einige wenige Skalen auch einen Wert für den König an. Damit beschreiben sie aber nicht seinen
Tauschwert, sondern seine Kraft als aktiv wirkende Figur, die ja vor allem im Endspiel nicht zu unterschätzen ist.
Als "Maßeinheit" der Figurenstärke hat sich der Wert eines Bauern eingebürgert. Auch moderne Schachprogramme geben ihre Stellungseinschätzung in dieser Größenordnung an. Wir werden aber gleich sehen, dass sie damit mehr meinen als nur den materiellen Wert der verbliebenen Figuren.
Blicken wir nun zunächst unkommentiert auf die Einschätzungen einiger Lehrmeister der Vergangenheit. Der Bauer ist dabei jeweils als Grundeinheit mit dem Wert "1" anzusetzen.
Autor | Jahr | ![]() |
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Jacob Sarratt | 1813 | 3,1 | 3,3 | 5 | 7,9 | 2,2 |
Francois Philidor | 1817 | 3,05 | 3,5 | 5,48 | 9,94 | |
Paul Bilguer | 1843 | 3,5 | 3,5 | 5,7 | 10,3 | |
Emanuel Lasker | 1934 | 3 | 3 | 5 | 9 – 10 | 4 |
Max Euwe | 1944 | 3,5 | 3,5 | 5,5 | 10 | |
Albert Horowitz | 1951 | 3 | 3 +x | 5 | 9 | |
Larry Evans | 1958 | 3,5 | 3,5 +x | 5 | 10 | |
Robert Fischer | 1972 | 3 | 3,25 | 5 | 9 | |
David Bronstein | 1995 | 3 | 4 | 5 | 9 | |
Hans Berliner | 1999 | 3,2 | 3,33 | 5,1 | 8,8 |
Anmerkung: Die Werte von Philidor werden oft auch im Zusammenhang mit den Weltmeistern Staunton und Steinitz angegeben. Beide hatten aber nur Philidors Zahlen wiederholt, ohne dies klar zu kennzeichnen.
Alle diese Bewertungen entsprangen dem subjektiven Empfinden der großen Meister und hatten sich in deren erfolgreicher Turnierpraxis mehr oder weniger
bewährt.
Die grobe Skalierung ist dabei durchweg vergleichbar. Auffällig ist, dass der Läufer meist etwas höher bewertet wird als der Springer. Dennoch werden auch
diese Spieler meist ohne schlechtes Gewissen die Leichtfiguren gegeneinander abgetauscht haben.
Rechnet man etwas weiter, so gibt es schon einige Unterschiede. Der Tausch "zwei Leichtfiguren gegen Turm und Bauer" geht nur bei Lasker auf. Alle
anderen Autoren sehen den Vorteil auf Seiten der Leichtfiguren – und haben damit wohl auch Recht. Bei Bronstein wäre es selbst mit einem zweiten
Bauern gerade ausgeglichen.
Ähnlich interessant wird es bei "Dame gegen Turm und Leichtfigur". Sarratt sieht hier die Partei mit der Dame sogar schon im Nachteil – was
indes nicht stimmen dürfte.
Weitere Rechenexempel kann man mit der Tabelle selbst aufstellen und wird zu interessanten Vergleichen kommen.
Die meisten Autoren haben ihre Zahlenskala nicht unkommentiert veröffentlicht, sondern um einige weitere Kriterien ergänzt. Damit kommen wir in einen
Bereich, wo sich das arithmetische Abzählen zur schachlichen Stellungsbewertung entwickelt – und damit in eine Perspektive, der auch ich einiges
abgewinnen kann. Zumindest für das Läuferpaar wird meist ein deutlicher Zuschlag (ca. ½ Punkt) gewährt.
Auch für langschrittige Figuren in offenen Stellungen gibt es meist eine Gutschrift.
Besonders intensiv hat der Fernschach-Weltmeister Hans Berliner diese Verfeinerungen erforscht. Die langschrittigen Figuren (Läufer, Turm und Dame)
bekommen in offenen Stellungen einen Zuschlag bis zu 10% ihres Wertes und verlieren sogar 20% in geschlossenen Positionen. Diese asymmetrische Verteilung
der Zu- und Abschläge entspricht durchaus den praktischen Erfahrungen. In geschlossenen Stellungen erhöht sich der Wert des Springers sogar um 50%,
während er sich im ungünstigsten Fall (offene Stellung, Springer in der Ecke oder am Rand) um 30% reduziert.
Die folgende Tabelle mag die sehr großen Unterschiede verdeutlichen.
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"Normal"werte bei Berliner | 3,2 | 3,33 | 5,1 | 8,8 |
Offene Stellungen | 2,3 | 3,7 | 5,6 | 9,7 |
Geschlossene Stellungen | 4,8 | 2,7 | 4,1 | 7,0 |
Auch über die Bauern hat sich Hans Berliner ausführliche Gedanken gemacht. Bisher haben wir sie nur als "Maßeinheit" verwendet. Aber wir wissen natürlich, dass der Wert der Bauern enorm schwanken kann. Zur Erinnerung einige Gedanken hierzu, die wir aus früheren Trainingseinheiten bereits kennen.
Diese Besonderheiten berücksichtigt der Fernschach-Spezialist in einer sehr komplexen Darstellung, aus der ich jetzt nur einige Aspekte herausgreifen
kann.
Nicht völlig überzeugend finde ich Ansätze, bei denen die Zahl der für eine Figur aus beliebigen Stellungen erreichbaren Felder als Maß ihrer Mobilität (und damit ihrer Stärke) ermittelt wird. Rechnerisch ist dies gleichbedeutend mit einer zufällig gebildeten Aufstellung dieser Figur und des gegnerischen Königs, wobei die Anzahl der entstehenden Schach-Gebote die "einfache Mobilität" ermittelt. Lässt man dann jene Stellungen heraus, in denen der König die Figur sofort schlagen kann, verbleibt die "eingeschränkte Mobilität".
Ähnliche Berechnungen hat auch der russische Mathematiker Jewgeni Gik angestellt. Für seine Ergebnisse finden sich in den Quellen zwei verschiedene Darstellungen: einerseits in der englischen Wikipedia, zum anderen in Giks eigenem Buch "Schach + Mathematik".
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Einfache Mobilität | 2 | 3,25 | 5 | 8,25 | |
Eingeschränkte Mobilität | 2,5 | 2,75 | 5 | 7,75 | |
Gik laut Wikipedia | 2,4 | 4 | 6,4 | 10,4 | 3 |
Gik laut "Schach + Mathematik" | 1,7 | 3 | 4,7 | 7,7 | 2,5 |
Als Fazit hierzu kann man wohl sagen, dass solche rein geometrischen Analysen dem Schachspiel nicht gerecht werden. Vor allem Giks Zahlen weichen doch sehr weit vom Erfahrungswert der Schachpraktiker ab.
Hochinteressant finde ich schließlich die Analyse des US-Amerikanischen Mathematikers und Schach-Großmeisters Larry Kaufman. Er beginnt mit seiner
Arbeit gewissermaßen am Ende – nämlich beim Ausgang der Partie. Aus einem großen Fundus an Meisterpartien ermittelte er die dort stabil vorkommenden
Materialverteilungen und die sich daraus ergebenden Punktausbeuten. Letztere setzte er noch ins Verhältnis zu den nach ELO-Zahlen zu erwartenden Ergebnissen.
Man sieht also nicht, wie der Wert der Figuren eigentlich sein sollte, sondern wie sich bestimmte Material-Ungleichgewichte in der Hand erfahrener
Schachspieler auswirken.
Es mag wie ein Witz erscheinen, aber Kaufmans Zahlen kommen der "primitiven" Zahlenskala vom Anfang noch am nächsten…
Dabei gibt Kaufman weitere Bewertungshinweise, mit denen er wiederum das Feld des Abzählens in Richtung einer gründlichen Stellungsanalyse verlässt.
Ich bin kein Freund des "Punktezählens". Viel wichtiger (aber auch schwieriger) ist es, abzuschätzen, welche Möglichkeiten die einzelnen Figuren in einer konkreten Stellung haben. Viele Kriterien dazu haben wir bereits kennengelernt. Folgende Gedanken seien noch angeführt.
Für Fragen, Kritiken und Anregungen bitte Email an mich