Wertungssysteme bei Schachturnieren

Wir wollen uns noch einmal anschauen, welche verschiedenen Wertungssysteme bei Schachturnieren angewendet werden, insbesondere wie man die Platzierung punktgleicher Spieler oder Mannschaften ermittelt.

Wertungsprinzipien bei Einzelturnieren

Zunächst ist es hier ganz einfach: Wer die meisten Punkte holt, liegt vorn. Dabei wird klassisch der Gewinn einer Partie mit einem ganzen Punkt und das Remis mit einem halben Zähler bewertet.
Es hat immer wieder Ansätze zu anderen Wertungen gegeben (z. B. abweichende Punktaufteilung beim Patt), doch konnte kein Modell diese bewährte Rechnung in Frage stellen. Aktuell ist das 3-Punkte-System in aller Munde (3 Punkte für den Sieger, 1 Punkt bei Remis). Ich denke aber, dass auch dies nicht der Weisheit letzter Schluss sein wird.
Der Grundsatz Sieg + Niederlage = 2 Remis sollte unangetastet bleiben. Zur Vermeidung schneller und quasi kampfloser Remis gibt es andere Wege.

Sehen wir nun, wie es weitergeht, wenn dieser einfache Grundsatz nicht zur Ermittlung von Siegern und Preisträgern ausreicht.

Das Schweizer System

Die Buchholz-Wertung

Im Schweizer System kann man zwischen punktgleichen Spielern dadurch variieren, dass sie ja nicht gegen die selben Gegner gespielt haben. Die Zauberformel lautet also "Wer die betreffende Punktzahl gegen stärkere Gegner erspielt hat, ist offenbar auch weiter vorn einzuordnen."
Nun braucht man also nur noch ein verlässliches Kriterium für die Stärke der Gegner.
Klassisches Mittel ist hier die Buchholz-Wertung. Sie ergibt sich einfach durch Addition der von den Gegnern erreichten Punkte. Ist auch diese gleich, kann man die Buchholz-Summe heranziehen, wobei nicht die eigentlichen Punkte, sondern die Buchholz-Zähler der Gegner addiert werden.
Weitere Verfeinerungen sind möglich durch die Bildung einer "mittleren" Buchholz-Zahl. Dabei werden der stärkste und schwächste (manchmal auch nur der schwächste) Gegner außer Betracht gelassen. Ein ähnlicher Ansatz (das Koya-System) berücksichtigt nur Gegner, die ihrerseits mindestens 50% der Punkte erreicht haben.

Die Aussagen der Buchholz-Wertung werden meist noch als halbwegs gerecht akzeptiert. Jedoch hat sie ihre Schwächen vor allem dann, wenn kampflose Partien oder die Ergebnisse von im Turnierverlauf ausgeschiedenen Spielern berücksichtigt werden müssen.

Performance-Wertung

Ausgehend von dem gleichen Grundgedanken wie die Buchholz-Wertung werden hier die ELO-Zahlen (oder vergleichbare Ranglisten) der Gegner berücksichtigt. Bei gleicher Punktzahl entspricht die Platzierung dann der sogenannten "Turnierperformance", die auch für die Weiterberechnung eben dieser Wertzahlsysteme herangezogen wird. Dabei kann man einige Schwächen der Buchholz-Zahl vermeiden, berücksichtigt aber die "Vorwerte" der Gegner statt ihrer Leistung im aktuellen Turnier.

Fortschrittswertung

Hier werden die Punkte addiert, die ein Spieler nach jeder einzelnen Runde hatte. Dies belohnt also Spieler, die früh gewinnen und dann in der Spitzengruppe mitspielen gegenüber jenen, die erst zum Schluss des Turniers aufholen.
Man geht davon aus, dass damit im Normalfall auch derjenige Spieler bevorteilt ist, der stärkere Gegner hatte. Vorstellbar – wenngleich selten – wäre es allerdings, dass zwei Spieler bei gleichen Gegnern und gleichen Ergebnissen unterschiedlich bewertet würden.

Weitere Wertungen

Gelegentlich werden "exotische" Kriterien herangezogen, wie die Zahl der Siege, die Zahl der Schwarz-Siege oder gar der Schwarz-Partien.

Beispiele

Die Abbildungen zeigen Ausschnitte aus Turniertabellen mit unterschiedlichen Wertungskriterien. Im 1. Beispiel wird nach der Buchholz-Wertung die Buchholz-Summe berücksichtigt. Die mittlere Turnierauswertung verwendet bei Punktgleichheit sofort den gegnerischen ELO-Durchschnitt. Man erkennt, dass dies in vielen Fällen keine Differenzierung ermöglicht. Die rechte Tabelle hingegen verwendet nach der Buchholz-Zahl zunächst die mittlere Buchholz-Wertung und dann die (eigentlich für Rundenturniere vorgesehene) Sonneborn-Berger-Wertung.
Der Phantasie bei der Zusammenstellung von Tie-Break-Kriterien sind offenbar keine Grenzen gesetzt.

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Rundensystem

Bild Beim Rundenturnier versagen natürlich alle Buchholz-Spielereien, denn zwei punktgleiche Gegner haben ja auch gegen die gleichen Gegner gespielt.
Hier wird das Sonneborn-Berger-System angewendet. Dabei werden die Punkte der Gegner mit dem jeweils erreichten Ergebnis gewichtet. Man addiert also die Punkte der Spieler, gegen die man gewonnen hat und jeweils die halbe Punktzahl der Spieler, gegen die man remis gespielt hat. Nutznießer der Sonneborn-Berger-Zahl sind Spieler, die gegen (in diesem Turnier) starke Konkurrenten gewonnen haben. Dass sie dann zum Ausgleich gegen "schwächere" Gegner Punkte liegen ließen, wird großzügig übergangen.
In nebenstehender Tabelle werden die Plätze 4 und 5 sowie 6 und 7 jeweils per Sonneborn-Berger-Wertung entschieden. Man erkennt, dass derjenige Spieler die Nase vorn hat, der gegen höher platzierte Gegner gewinnen konnte.

Wertungsprinzipien bei Mannschaftsturnieren

Mannschafts- und Brettpunkte
Mannschaftswettkämpfe bieten zunächst bereits in sich eine Feinabstufung. Wir unterscheiden hier prinzipiell zwischen Mannschafts- und Brettpunkten.
Mannschaftspunkte werden – wie in praktisch allen Teamsportarten – für einen gewonnenen oder unentschiedenen Mannschaftskampf vergeben. In der Regel erhält der Sieger 2 Punkte, bei einem Unentschieden jede Mannschaft einen Punkt. Gelegentlich wird die Vergabe dieser Punkte an eine Mindestzahl von Brettpunkten gebunden. Das führt dann bei Duellen in denen ein Brett auf beiden Seiten frei bleibt, zu solch kuriosen Ergebnissen wie einem 4:3, das für die eine Mannschaft als Unentschieden, für die andere als Niederlage gewertet wird.

Sind die Mannschaftspunkte am Ende eines Turniers oder einer Liga-Saison gleich, bietet sich als zweite Wertung die Betrachtung der Brettpunkte an. Diese entspricht ganz einfach dem "Torverhältnis" in einigen Ballspielarten. Es scheint auf den ersten Blick logisch, diejenige Mannschaft besser zu bewerten, die ihre Spiele höher gewonnen bzw. knapper verloren hat.

Berliner Wertung

Unter dem Namen "Berliner Wertung" oder auch (mathematisch nicht ganz korrekt) "reziproke Brettwertung" ist eine weitere Feinwertung üblich. Hier gibt es für den Sieg am untersten Brett einen Punkt, am vorletzten Brett 2 Punkte usw. Bei einem Unentschieden gewinnt dann diejenige Mannschaft, welche die höherwertigen Bretter für sich entscheidet.

Rundensystem

Bei Mannschaftsturnieren "Jeder gegen Jeden" (also im Liga-Betrieb) sind sowohl Brett- als auch Mannschaftspunkte ein gutes Kriterium. In der Regel gilt als erste Wertung die Zahl der Mannschaftspunkte, dann die der Brettpunkte. Es gibt aber durchaus auch Ligen mit umgekehrter Priorität. So war z. B. der Spielbetrieb in der früheren DDR organisiert.

Blicken wir auf die aktuelle Regelung im Berliner Schachverband:
Über die Liga-Platzierung und damit auch über Auf- und Abstieg entscheiden in dieser Reihenfolge:

  1. Mannschaftspunkte
  2. Brettpunkte
  3. Direkter Vergleich
  4. Berliner Wertung aus dem direkten Vergleich
  5. Berliner Wertung aus allen Runden
  6. Losentscheid

Welche Dramatik diese nüchterne Auflistung bieten kann, erlebte meine eigene Mannschaft am letzten Spieltag der Saison 2011/12 in der 1. Stadtklasse. Zwischen den SF Siemensstadt und der 4. Mannschaft von Friesen Lichtenberg ging es um den Klassenerhalt. Beide Mannschaften trafen in der letzten Runde aufeinander. Sie hatten vor diesem Duell je 4:12 Mannschafts- und 25,5 Brettpunkte. Da es den direkten Vergleich noch nicht gegeben hatte, kamen die Kriterien 3 und 4 nicht in Betracht. Die Berliner Wertung aus allen Runden sah die Friesen mit 110:108 knapp vorn.

Das Spiel endete nach fünfstündigem Kampf 4:4-Unentschieden. Die beiden wichtigsten Wertungen blieben also gleich: 5:13 Mannschafts- und 29,5 Brettpunkte. Auch der direkte Vergleich war unentschieden ausgegangen. Nun musste also die Berliner Wertung dieses Duells entscheiden. Wir gewannen an den Brettern 2, 3 und 7 – Friesen an 1, 5 und 8. An den Brettern 4 und 6 wurde remisiert. Rechnet man das alles zusammen, bleibt ein denkbar knapper 19:17-Sieg für die SF Siemensstadt. Die nächste Wertung wäre mit 127:127 wieder unentschieden gewesen.
Kurioserweise hatten wir also durch das Unentschieden im direkten Vergleich die Friesen noch überholt und verblieben in der Liga, während der Gegner absteigen musste. Die beiden Abbildungen zeigen das Tabellenbild im "Keller" der Liga und die Einzelergebnisse des denkwürdigen Abstiegsduells. Wer möchte, kann das 19:17 in der Berliner Wertung hier nachrechnen.

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Schweizer System

Natürlich kann man auch hier neben den Mannschaftspunkten die Teams nach Brettpunkten einreihen. Einige Schwächen dieses Vorgehens werden jedoch deutlich, wenn das Leistungsgefälle der Mannschaften sehr groß ist, wie z. B. bei der Schacholympiade. Dann kann ein deutlicher Sieg gegen einen schwachen Gegner erhebliche Verschiebungen bringen, was vor allem in der letzten Runde nicht gewollt ist.
Um diese Effekte aufzufangen hat die FIDE ausgeklügelte Wertungssysteme ersonnen, die auf Buchholz bzw. Sonneborn-Berger basieren und dabei Mannschafts- und Brettpunkte kombinieren.
Ein Beispiel gefällig? Bitteschön – schauen wir uns an wie aktuell bei der Schacholympiade gewertet wird:

  1. Mannschaftspunkte
  2. Olympiade-Sonneborn-Berger-Wertung: Es werden jeweils die erzielten Brettpunkte eines Matches mit den vom Gegner insgesamt erreichten Mannschaftspunkten multipliziert und diese Werte (mit Ausnahme des schwächsten Gegners) addiert.
  3. Brettpunkte
  4. Olympiade-Buchholz-Wertung (Summe der Mannschaftspunkte der Gegner, außer dem schwächsten)

Zur Illustration die Spitzengruppe der Schacholympiade 2012 in Istanbul:

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KO-System

Das KO-System (z. B. in Pokal-Wettbewerben) ist die Domäne der Berliner Wertung. Endet ein Wettkampf unentschieden, so entscheidet dieses Kriterium. Führt es keine Klärung herbei, kommt z. B. ein Stichkampf im Blitzschach in Frage.




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Thomas Binder, 2012