Das Endspiel Turm und Läufer gegen Turm ist in der Turnierpraxis sehr häufig anzutreffen. Es gilt die generelle Einschätzung, dass es im Normalfall remis enden sollte. Am Brett wird diese Bewertung aber sehr oft auf eine harte Probe gestellt. Es gibt eine Menge Stellungen, in denen die Partei mit dem Läufer gewinnen kann. Diese muss man kennen und als Verteidiger vermeiden. Schließlich kann der Spieler mit der Mehrfigur risikolos auf Gewinn spielen, gerät er doch selbst bei einem kleineren Patzer nicht in Verlustgefahr.
Es gibt zu diesem Endspieltyp viel Literatur. Die fundierteste Darstellung habe ich bei John Nunn in "Secrets of pawnless endings" gefunden. Dort sind der vorliegenden Materialkonstellation über 60 Seiten gewidmet – mehr als jeder anderen Figurenverteilung.
Das zu studierende Material ist sehr vielfältig und manchmal auch kompliziert. Wir wollen uns hier auf einige exemplarische Gewinn- bzw. Verteidigungsverfahren
beschränken. Sie helfen uns, die Grundprinzipien und die wichtigsten Motive zu verstehen.
Wirklich spannend wird es ohnehin nur, wenn sich der König der schwächeren Seite nahe dem Brettrand befindet. Im Zentrum droht ihm keine Gefahr. Für den
Angreifer, heißt es also zuerst, den König an den Rand zu drängen. Das wird ihm in der Regel auch gelingen, so dass unsere Betrachtungen erst an dieser
Stelle einsetzen müssen.
Die Theorie zum vorliegenden Endspiel kennt einige grundlegende Remis-Stellungen, die der Verteidiger anstreben muss. Erreicht er sie, ist der halbe Punkt sicher.
Der schottische Meisterspieler John Cochrane (1798 – 1878) entwickelte ein nach ihm benanntes Remis-Verfahen.
Remisstellung nach Cochrane
Wie man leicht einsieht, funktioniert diese Verteidigung auf allen zentralen Reihen. Sie ist nicht möglich, wenn der König in einer Brettecke steht.
kein Remis mit dem König in der Ecke
Ein anderes wichtiges Verteidigungsverfahren wird als Verteidigung auf der zweiten Reihe bezeichnet.
Verteidigung auf der zweiten Reihe
Auch der große Philidor hat in diesem Endspiel seine Spuren hinterlassen. Er demonstrierte schon 1749 einen Gewinnweg, der sich im praktischen Spiel
oft ergibt.
Gewinnverfahren nach Philidor
Die Analyse dieser und anderer Partien zeigt übrigens scheinbar widersprüchliche Bewertungen in der Literatur und bei Computer-Nutzung. Das liegt vor
allem daran, dass die Computer Varianten berücksichtigen, in denen man durch sinnlose Qualitätsopfer den Verlust hinauszögern kann. Solche Abweichungen
lässt ein mitdenkender Autor natürlich außer Betracht.
Versetzt man die Stellung näher an den Rand, wird Philidors Verfahren etwas schwieriger.
Lollis Ergänzung zum Gewinnverfahren nach Philidor
Im nächsten Beispiel unterscheidet sich die Ausgangsstellung vom Philidor-Prinzip nur dadurch, dass die Könige nicht in Opposition stehen. Das macht
allerdings einen Unterschied von einem halben Punkt aus.
Der ungarische Meisterspieler Joszef Szen (1805 – 1857) hat diese Ideen ausgearbeitet.
Remisstellung nach Szen
Es ist keineswegs möglich, die zahlreichen vorstellbaren Positionen flächendeckend zu systematisieren. Es bleibt bei der grundsätzlichen Einschätzung, dass diese Materialverteilung fast immer ein Remis garantiert. Mann muss natürlich als Verteidiger die wichtigsten Remis-Verfahren kennen und als Angreifer die Chancen aufspüren, die sich immer wieder ergeben werden.
Nur wenige aktuelle Partien sollen uns von der praktischen Relevanz dieses Endspiels überzeugen. Wir sehen, dass selbst erfahrene Meister nach anstrengenden Partien ihre Probleme mit der Verteidigung solcher Stellungen bekommen.
Ein geradezu tragikomisches Auftreten unseres Endspieltyps sorgte bei der aktuellen Deutschen Meisterschaft für Aufsehen. Zunächst ließ Weiß das
schematische Gewinnverfahren aus, dann gab Schwarz in Remisstellung auf. Zur Entschuldigung beider Spieler sei angemerkt, dass sie bereits mehr als
110 Züge am Brett saßen – da kann man schon mal sein Grundwissen vergessen…
Donchenko – Carow, Saarbrücken 2013
Auch in einer Bundesliga-Partie gab es eine unnötige Großmeister-Niederlage im Endspiel mit dem Turm gegen Turm und Läufer.
Stangl – Rasmussen, Deutschland 2010
Für Fragen, Kritiken und Anregungen bitte Email an mich